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Wo bleibt der Protest gegen Polizeigewalt in Deutschland?

Auch in der deutschen Polizei gibt es Rassismus und tödlichen Schusswaffeneinsatz. Louisa Theresa Braun vermisst den Widerstand.

  • Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 4 Min.

Von Ausschreitungen, Randale und Zerstörung ist die Rede: Nachdem der 17-jährige Nahel Merzouk im Pariser Vorort Nanterre von einem Polizisten erschossen wurde, reißen die Proteste gegen die Polizeigewalt tagelang nicht ab. Warum auch? Es gibt nach wie vor guten Grund für die Wut der meist jungen Demonstrant*innen.

Im vergangenen Jahr sind in Frankreich 13 Menschen durch Polizeigewalt allein bei Verkehrskontrollen zu Tode gekommen, Rassismus ist ein strukturelles Problem. Beamt*innen decken sich gegenseitig, vom Staat ist selten Gerechtigkeit zu erwarten. Mit dieser Wahrnehmung der aktuellen Situation und eigener Zukunftsperspektiven kann es auf den jüngsten Vorfall kaum eine andere Antwort geben als Protest. Die Frage ist eher: Warum gibt es vergleichbare Reaktionen hier in Deutschland nicht?

In der Bundesrepublik sind 2022 immerhin elf Menschen von Polizist*innen erschossen worden. Viele Opfer befanden sich in psychischen Ausnahmesituationen, einige waren auch von Rassismus betroffen. Mehrere Fälle wurden bekannt und in den Medien breit diskutiert, so zum Beispiel der von Mohammed Lamine Dramé. Der wahrscheinlich suizidgefährdete 16-Jährige wurde in einer Einrichtung für unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Dortmund von zwölf Beamt*innen erst mit Pfefferspray und Tasern traktiert und dann mit sechs Schüssen getötet.

Natürlich wurde der Fall von vielen Seiten kritisiert, es gab Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen. Aber hätte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) deswegen einen Staatsbesuch abgesagt, wozu sich der französische Präsident Emmanuel Macron aufgrund der aktuellen »Randale« in verschiedenen Städten in Frankreich veranlasst sah? Nein, solchen Protest gab es bei Dramé nicht. Für die Bundesregierung galt nach der brutalen Tötung im Großen und Ganzen »Business as usual«.

Das soll nicht heißen, dass Gewalt die Lösung ist. Im Gegenteil: Gewalt kann niemals mit Gewalt bekämpft werden. Dafür, dass in Frankreich Autos, Wohnungen, Straßenbahnen und öffentliche Einrichtungen abgefackelt werden, gibt es keine Rechtfertigung. Dass dies dennoch passiert, ist eine logische Folge der berechtigten Verzweiflung jener, die nichts mehr zu verlieren haben. Oder zumindest glauben, dass es so ist.

Es zeigt aber auch, wie sehr sich die französische Demonstrationskultur von der deutschen unterscheidet. Schon an einem gewöhnlichen 1. Mai liefern sich autonome Französ*innen Straßenschlachten mit der Polizei. Und die von Macron geplante Rentenreform führte zu wochenlangen Streiks und Protesten breiter Bevölkerungsteile. Deutsche – bekannt für ihre Unzufriedenheit, aber nicht dafür, etwas dagegen zu unternehmen – arbeiten einfach bis ins 67. Lebensjahr. Man beschwert sich über »Linksextreme«, sobald irgendwo ein Bengalo gezündet wird, und über »Klimaterroristen«, wenn man im Stau steht.

Der Blick ins Nachbarland zeigt, wie verschoben unsere Wahrnehmung von Protest ist. Immer wieder weisen Protestforscher – aktuell vor allem, wenn es um Straßenblockaden der Letzten Generation geht – darauf hin, dass ziviler Ungehorsam stören muss, wenn er etwas bewirken will. Auch damit ist keine Gewalt gemeint. Aber klar ist: Ein Polizeiapparat, der rund ein Dutzend Tode pro Jahr verursacht, lässt sich wohl kaum von einer angemeldeten Kundgebung oder einer Petition beeindrucken.

Die Demonstrierenden in Frankreich haben das begriffen. Ob ihr gewaltvoller Protest etwas ändern wird, zum Beispiel das Polizeigesetz von 2017, das Polizist*innen erlaubt, bei Verkehrskontrollen zu schießen, steht auf einem anderen Blatt. Unabhängig davon ist die Wut, die durch Frankreich schwappt, gerechtfertigt. Und sie wäre es auch in Deutschland. Wenn Gewalt und Rassismus bei der deutschen Polizei ein Opfer fordern, darf der Protest ruhig ein wenig lauter sein. Die Regierung sollte es schon mitbekommen.

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