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Startschüsse ins Verderben
Der 7. Juli 1937 ist tief im kollektiven Gedächtnis der Chinesen verankert. Ein Vorfall an einer Brücke führte zum Krieg mit Japan
Die Hähne krähen, man hört Schweine grunzen, vernimmt einzelne verschlafene Stimmen, in der aufgehenden Morgensonne sind ein paar Häuser zu erkennen. Im Hintergrund schwingt sich eine Brücke über einen Fluss, und zur Linken erhebt sich eine hohe Mauer mit Turm. Doch plötzlich peitschen Schüsse durch die ländliche Idylle, Granaten schlagen krachend ein, Rauch steigt auf und Gebrüll ist zu vernehmen: unverständliche Kommandos und Schmerzensschreie von Getroffenen. Anschwellender Schlachtenlärm bohrt sich schmerzend auch in unsere Ohren, Licht lenkt den Blick mal dahin und mal dorthin.
Die Zuschauer blicken gebannt vom Seitenrang des riesigen Raumes auf das gewaltige Diorama, in dem sich eben jene Landschaft erstreckt, die draußen vor dem Hause liegt. Die Chinesen scheinen diese Art von Geschichtsaufbereitung zu mögen: In nahezu jedem Museum, das wir bereits sahen, werden solch plastische Darstellungen mit viel Ton und Spotlights und Dramatik zum Leben erweckt. Aus eben diesem Grunde stechen, schießen und schlagen Hunderte mannshohe Soldatenfiguren auch hier am südwestlichen Stadtrand von Beijing aufeinander. So wie dargestellt soll es draußen an jenem 7. Juli 1937 zugegangen sein, dort wo sich dieses Museum befindet, das an den Widerstand des chinesischen Volkes gegen die japanische Aggression erinnert.
Das Haus war zur 50. Wiederkehr jenes Tages errichtet worden, und Deng Xiaoping malte die Schriftzeichen, die gülden über dem Portal hängen. Auf die Urheberschaft des wohl eine Zeit lang wichtigsten Chinesen verweist zweisprachig ein kleiner Betonklotz am Wegesrand. Englisch ist nicht nur hier üblich, sondern inzwischen wohl im ganzen Land – die Überlegungen, die chinesischen Schriftzeichen etwa zu latinisieren, scheinen erledigt, seitdem insbesondere die jungen Generationen Englisch als Fremd- oder sogar als Zweitsprache beherrschen. Außerdem stellen die kalligrafischen Schriftzeichen, die seit Jahrtausenden der Kommunikation dienen, einen Wert an sich dar: Sie waren und sind die kulturelle Klammer von 1,4 Milliarden Menschen. Und nationales Selbstbewusstsein tut ein Übriges. Darum wird man sie nicht abschaffen.
Und der Klotz auf der Wiese bestätigt überdies die Zuneigung der Chinesen zu Symbolen und Metaphern. Vor dem Haus stehen acht Ginkgos – für jedes Kriegsjahr ein Baum. Denn in Asien tobte der Zweite Weltkrieg von 1937 bis 1945, und er raffte allein in China wohl 35 Millionen Menschen dahin. 14 Stufen führen hinauf in die Haupthalle, und sie wiederum stehen für die 14 Jahre nationalen Widerstands gegen die japanische Kolonialmacht von 1931 bis 1945. Nein, die Frage, weshalb Staatspräsident Xi Jinping auf dem letzten Parteitag zwei Teetassen vor sich stehen hatte und ob dies auch etwas bedeutet habe, wie in Deutschland gerätselt wurde, konnten wir in diesem Kontext auch nicht klären. Wir ernteten nur Heiterkeit bei den Chinesen: Worauf ihr in Europa alles achtet!
Im Museum sind viele Schulklassen mit ihren Lehrern unterwegs. Auch draußen begegnen uns etliche Gruppen von Heranwachsenden, die die Geschichte besichtigen und kundig erläutert bekommen. Draußen: Das ist zunächst die Brücke über den Yongding He. Die Schilfrohrgrabenbrücke heißt im Original Lugou Qiao, was natürlich ein Nichtchinese kaum aussprechen kann, weshalb sie in auswärtigen Reisebüchern als Marco-Polo-Brücke bezeichnet wird. Der Asienreisende aus Venedig soll hier vor etwa 750 Jahren vorbeigekommen sein und sie auch beschrieben haben. Er will zwar 24 Brückenbögen gezählt haben, obgleich sie doch nur elf aufweist, aber auf dem weiten Weg von Asien bis Europa ist schon immer einiges Wissen verloren gegangen – warum nicht auch die Erinnerung von Marco Polo?
Über die 235 restaurierten Meter fuhren vor der Pandemie, als wir schon einmal hier standen, auch motorisierte und nichtmotorisierte Zweiräder. Jetzt geht es nur noch zu Fuß: Das historische Bauwerk, auf dessen Geländer einige Hundert steinerne Wächterlöwen hocken, ist ein Touristen-Hotspot und darum auch nicht mehr gratis zu betreten. An beiden Enden sind die Scherengitterzäune ausgefahren und stehen Ticket-Häuschen. Auf jener Seite, wo die Brücke in einen Platz mündet, von dem man schließlich zu der mit einer hohen Mauer umschlossenen Siedlung Wanping gelangt, finden sich zahlreiche Denkmale, Stelen und Reliefs, die die lokale und regionale Geschichte illustrieren. Nach einem Hinweis auf den unheilvollen Auftakt des Zweiten Weltkriegs in Asien aber muss man lange suchen. Er findet sich auf einem Marmorblock, den auf der Vorderseite eine Abbildung der Brücke schmückt. Auf der Rückseite steht ein längerer Text, der technische Angaben zum Bauwerk und zu dessen Geschichte enthält. Ganz am Ende, in der letzten Zeile, erkennen wir das uns inzwischen bekannte Schriftzeichen, das wie zwei klein geschriebene lateinische T aussieht, deren Fuß nach rechts schwingt. Sie stehen wie üblich zwischen zwei Anführungszeichen und heißen in der Transkription »Der Vorfall vom 7. Juli«. Nicht: Hier fielen die ersten Schüsse des Zweiten Weltkriegs, hier begann ein acht Jahre währender blutiger Kampf gegen den Aggressor Japan, hier nahm das große Völkermorden auf dem Kontinent seinen Ausgang. Nichts dergleichen. Der Kriegsbeginn als Vorfall. Der »Vorfall« war banal, wie es so oft mit der großen Geschichte ist.
Die Japaner waren dem Beispiel der Kolonialmächte England, Frankreich, Portugal, Deutschland und USA gefolgt und okkupierten 1931 den Nordosten Chinas: Dort lagen Steinkohle, Eisenerz und Öl. Daran angrenzend lag Sibirien, um das Japan schon 1905 mit den Russen Krieg geführt hatte. Der Appetit auf Landgewinne hielt unvermindert an, der Tenno in Tokio hatte den Kampf um die »Neue Ordnung« befohlen.
Und darum meinen Historiker, dass der »Vorfall« an der Marco-Polo-Brücke vermutlich eine japanische Inszenierung gewesen sei, um eine Begründung für die Besetzung des restlichen Chinas zu liefern. Die Konkurrenten Japans im Fernen Osten waren damals mit der Niederschlagung der Spanischen Republik beschäftigt. Und außerdem war Tokio seit 1936 mit Berlin und Rom durch den Antikominternpakt verbündet.
Am Abend des 6. Juli 1937 war eine Kompanie der kaiserlichen japanischen Armee am Fluss Yongding He unterwegs, der die Grenzlinie ihres Marionettenstaates Mandschukuo bildete. Ein Japaner verschwand. Sofort hieß es, dass ihn die Chinesen entführt hätten, was umgehend nach oben gemeldet wurde. Nach einigen Stunden kehrte der Vermisste wohlbehalten zurück. Die obersten Kriegsherren in Tokio befahlen jedoch den Sturmangriff auf die in Wanping an der Marco-Polo-Brücke stationierte chinesische Einheit, obwohl einige japanische Strategen der Ansicht waren, dass es dafür eventuell noch zu früh sei: Von den 30 in der Mandschurei stationierten japanischen Divisionen brauche man 19 für die Sowjetunion und sechs müssten in Reserve gehalten werden, so die Überlegung. Und mit fünf Divisionen könne man keinen erfolgreichen Feldzug gegen China führen. Doch die Ausweitung der Invasion auf ganz China war längst beschlossene Sache.
Wir umrunden die Mauer von Wanping. Sie trägt noch da und dort die Narben des Sturmangriffs, Granaten haben Löcher in das Mauerwerk gerissen, deren Ursprung auf Bronzetafeln daneben erklärt ist. Am Fuß der Mauer reihen sich Steine aneinander, die ausschauen wie überdimensionierte Hallorenkugeln. Sie sind übersät mit Schriftzeichen. Kalligraphien unterschiedlicher künstlerischer Qualität, wie wir von den Chinesen hören, aber mit vergleichbarem Inhalt: Es sind Berichte von Gräueltaten der japanischen Besatzer, von Kriegsverbrechen abscheulichster Art, die aus einzelnen Orten gemeldet und so zusammengetragen wurden: »Im Dorf Tangzhuang wurden 13 Alte und Kinder auf einen Platz getrieben und mit Maschinengewehren erschossen.« – »In einem anderen Dorf wurden 1360 Zivilisten verbrannt.« – »Am 3. Juni 1938 haben japanische Soldaten im Kreis Tongxu 3365 Menschen erschossen, mit Messern getötet oder verbrannt. 335 wurden lebendig begraben und 362 von Schäferhunden zerfleischt. 1288 Frauen wurden vergewaltigt.«
Stein reiht sich an Stein, Nachricht an Nachricht. Hunderte Steine berichten von Kriegsverbrechen und von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie sie befohlen wurden: »Alles töten, alles plündern, alles verbrennen.« Das bedeutete willkürliche Massenexekutionen, Enthauptungen, Menschenversuche mit chemischen und biologischen Waffen, Massenvergewaltigungen.
Am 8. Juli 1937, am Tag nach dem »Vorfall«, rief die Führung der chinesischen KP alle Chinesen zum nationalen Widerstand gegen den japanischen Aggressor auf. Unter der Losung »Chinesen kämpfen nicht gegen Chinesen! Vereinigter Widerstand gegen Japan!« mobilisierte die Partei Maos die chinesische Gesellschaft, die sich bis dahin im Bürgerkrieg zerfleischt hatte. Die Japaner gingen mit grausamer Härte vor. Im Dezember 1937 beispielsweise massakrierten sie in Nanking in wenigen Tagen mehrere hunderttausend Menschen, rund 20 000 Mädchen und Frauen wurden vergewaltigt. »Die Kompanie, zu der ich gehörte, war in Xiaguan stationiert«, berichtete Jahrzehnte später der japanische Soldat Tadokoro Kozo. »Wir benutzten Stacheldraht, um die gefangenen Chinesen zu Zehnerbündeln zusammenzuschnüren und banden sie an Gestelle. Dann schütteten wir Benzin auf sie und verbrannten sie lebendig.« Doch die Japaner erreichten genau das Gegenteil dessen, was sie bezweckten. Der Durchhaltewille und der Widerstand der Chinesen wuchsen.
Die Erfahrungen jener Jahre haben sich im kollektiven Bewusstsein der Chinesen eingebrannt und erklären viele außen- und innenpolitische Entscheidungen Beijings in der Gegenwart. »Vorfällen« schenkt man aus nachvollziehbaren Gründen größere Aufmerksamkeit und man reagiert darauf sensibler, als vielleicht andere Staaten dies tun. Der 7. Juli 1937 ist darum ein Datum, das auch für uns Europäer von einiger Bedeutung ist.
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