Generation der »Millenials«: Unfreiwillige Berufsjugendliche

Großstadt-Millennials sind inzwischen um die 40 Jahre alt, fühlen sich oft aber nicht erwachsen. Das hat vor allem ökonomische Gründe

  • Isabella Caldart
  • Lesedauer: 6 Min.
Familie Simpson vor dem Eigenheim: Selbst für viele Akademiker heute ein nicht mehr erreichbarer Lebensstandard.
Familie Simpson vor dem Eigenheim: Selbst für viele Akademiker heute ein nicht mehr erreichbarer Lebensstandard.

Millennials sind nicht mehr jung, im Gegenteil: Wir gehen stark aufs mittlere Lebensalter zu. Doch viele, gerade die urbanen Vertreter*innen dieser Generation, haben immer noch nicht das Gefühl, wirklich im Erwachsenenleben angekommen zu sein – geschweige denn, auf die Midlife-Crisis zuzusteuern, in der man dem Klischee zufolge sehr viel Geld ausgibt, um sich wieder jung zu fühlen. Warum ist das so? Die simple Antwort: Wir haben schlicht und ergreifend nicht die Finanzen dafür. Und deswegen wünschen wir uns das, woraus man bei einer klassischen Midlife-Crisis eigentlich ausbrechen will – Stabilität.

Immer wieder kommt in Social Media die Frage auf, wie realistisch der Lebensstandard der berühmten Zeichentrickfamilie »Die Simpsons« – mit einem Alleinverdiener, dessen Arbeiterklasse-Gehalt für drei Kinder, zwei Autos und ein Haus reicht – heute wäre. Die Familie ist seit ihrer Erschaffung im Jahr 1989 nicht gealtert, was aus Homer mit seinen 39 Jahren heute einen Millennial machen würde. Aber von seinem Lebensstil sind viele von uns himmelweit entfernt.

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Mitte März veröffentlichte die »New York Times« eine Umfrage (an der 1300 Menschen teilnahmen) mit der Überschrift »Millennials kommen ins mittlere Alter – und es sieht nicht so aus, wie es uns versprochen wurde«. Die Quintessenz des Artikels von Jessica Grose lautet: Wir fühlen uns bedeutend jünger, als wir sind. Denkt man darüber nach, ist das eigentlich wenig überraschend. Denn was gehört zu den Markern eines klassischen Erwachsenenlebens, wie sie einem in Popkultur und Gesellschaft vorgelebt werden? In der urbanen Mittelschicht von Industrieländern zumindest sind das: Ein fester Wohnsitz, vielleicht sogar als Eigentum, Auto(s), verheiratet oder in einer langjährigen Beziehung, Kind, gar Kinder, sprich, das Leben, das die Simpsons führen. Während dies auf dem Land oft noch so gelebt wird, sieht eine klassische Großstadtexistenz heute anders aus.

Millennials leben prekärer als alle vorigen Generationen seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Das ist nichts Neues: Bereits 2005 wurden wir in einem Artikel der »Zeit« als »Generation Praktikum« bezeichnet, eine Generation, die sich von einem un- oder schlecht bezahlten Praktikum zum nächsten hangelt und keine unbefristete Festanstellung bekommt. Verschiedenen Studien zufolge leben 50 bis 70 Prozent der US-Millennials von »Paycheck to Paycheck«, haben keine nennenswerten Ersparnisse oder ein Sicherheitsnetz. Da wird eine kaputte Waschmaschine schnell zum Problem. Die Situation in Deutschland ist weniger prekär als in den USA, aber auch hierzulande hat die Generation enorme wirtschaftliche »Struggles«. Laut der »Frankfurter Allgemeine Zeitung« im Jahr 2020 gaben 40 Prozent der Befragten an, »dass sie finanziell schwer getroffen wären, erhielten sie keine größeren finanziellen Zuwendungen wie eine Erbschaft oder eine Schenkung«.

Leben im Krisenmodus

Nicht ohne Grund ziert den »New York Times«-Artikel eine überreife Avocado: Der Avocado-Toast gilt als Sinnbild für die wirtschaftliche Situation der Millennials – dabei ist weder diese Leckerei noch der Flat White mit Hafermilch, ja, nicht einmal unser iPhone ist schuld an unserer Lage. Vielmehr erleben Millennials nach der globalen Wirtschaftskrise 2008 derzeit die zweite große Rezession: Ereignisse, die einst als »once in a lifetime« galten. Der Mietmarkt, der außer Kontrolle ist, die Pandemie, die wirtschaftlichen Auswirkungen des russischen Angriffskriegs und die Klimakatastrophe betreffen natürlich uns alle, werden aber Millennials und Gen Z, die Generation nach uns, naturgemäß am meisten und längsten beschäftigen. Während die Finanzkrise 2008 die älteren Millennials bei ihrem Einstieg ins Berufsleben mit voller Wucht traf, werden die Karrierechancen jüngerer Millennials jetzt durch Rezession und Klimakrise beeinträchtigt.

Es ist entsprechend schwierig, aus eigener Kraft einen Ausweg aus dieser Lage zu schaffen. Körperlich sei er »im mittleren Alter«, wird in der »New York Times« ein 41-Jähriger namens Joseph Walzer zitiert, »wirtschaftlich gesehen bin ich in meinen 20ern«. Die plausible These des Artikels: Da Millennials überhaupt keine finanzielle Stabilität haben, kommen sie auch nicht in eine Midlife-Crisis, wie wir sie uns konventionell vorstellen. »Viele sagten, sie könnten keine Midlife-Crisis haben, weil es keine bürgerliche Erstarrung gebe, gegen die sie rebellieren könnten«, heißt es darin. »Anstatt sich nach Abenteuern und Befreiung zu sehnen, sehnen sie sich nach einem Gefühl der Sicherheit und Ruhe, das sie ihrer Meinung nach nie gekannt haben.«

Für Millennials und Gen Z ist die ökonomische Situation so schlecht und die Aussicht auf eine große Karriere so unrealistisch, dass Gen Z, also die nach 1996 Geborenen aus unseren Erfahrungen gelernt haben und sich nicht mehr im Job verausgaben oder Überstunden anhäufen, in der Hoffnung, es möge sich irgendwann bezahlt machen. Sier erfüllen einfach nur das Minimum der Anforderungen. Das ist ein so umgreifendes Phänomen geworden, dass es inzwischen sogar eine eigene Bezeichnung bekommen hat: »Quiet Quitting«, die innere Kündigung. Denn warum sich ein Bein ausreißen, wenn es eh keinen Sinn hat?

Die Simpsons als Privilegierte?

Zurück zur Ausgangsfrage: Ist der Standard der Simpsons heute noch realistisch? Eindeutig nicht, meint »The Atlantic« in einem Artikel aus dem Jahr 2020 mit dem Titel »Das Leben in Die Simpsons ist nicht mehr erreichbar«. Dieser Lebensstil sei damals »nicht im Geringsten unwahrscheinlich« gewesen, heißt es in dem Text von Dani Alexis Ryskamp, »nicht so wie zum Beispiel die lächerlich großen Wohnungen im Manhattan der Friends. Im Gegenteil, die Simpsons waren ganz gewöhnlich – sie waren meiner Arbeiterfamilie aus Michigan in den neunziger Jahren sehr ähnlich.«

Ein Jahresgehalt von 25 000 US-Dollar habe vollkommen ausgereicht, rechnet die Autorin vor, inflationsbereinigt entspricht das etwa 48 000 US-Dollar. Heutzutage ist es unmöglich, mit diesem Geld eine Familie zu unterhalten und ein Haus zu kaufen. Und nicht nur das, es sinken auch die an der Kaufkraft gemessenen Reallöhne: In Deutschland stiegen 2022 die Gehälter im Schnitt zwar um 3,4 Prozent, bei einer Inflation von 7,9 Prozent bleibt am Ende des Monats trotzdem weniger Geld übrig. Vor wenigen Tagen wurde etwa der Mindestlohn auf 12,41 Euro angehoben, inflationsbereinigt ist er aber trotzdem niedriger als zuvor. Und so sind »Die Simpsons« mittlerweile ein utopisches Konstrukt: »Dass eine Serie, in der es ursprünglich um eine zerrüttete Familie ging, die sich nach der Reagan-Regierung gerade noch an ein Leben in der Mittelschicht klammerte, jetzt zu einem erstrebenswerten Ziel geworden ist, ist die offensichtlichste Manifestation des kapitalistischen amerikanischen Niedergangs, die mir einfällt«, schreibt Ryskamp.

In diesem Kontext darf der relative Wohlstand, den wir in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern auf der Welt erleben, natürlich nicht ausgeblendet werden. Aber dass auch hierzulande für viele der Millennial-Generation, die prekär beschäftigt sind oder gar mit Sozialbezügen leben, die Gegenwart bereits existentiell bedrohlich ist, ist ebenfalls eine Tatsache. Es ist eine Situation, die sich angesichts der Klimakrise für Millennials wie nachfolgende Generationen in Zukunft noch verschärfen wird. So sind wir unter anderem wegen unserer ökonomischen Lage eine Generation der ewig Jungen, obwohl wir uns aufs mittlere Alter zubewegen. Und unser finanziell größtes Wagnis scheint es nicht zu sein, uns ein Midlife-Crisis-Auto zu kaufen, sondern uns hin und wieder einen Avocadotoast zu leisten.

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