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Abolitionismuskonferenz in Hamburg: Nur eines ändern: Alles!

Auf der ersten internationalen Abolitionismuskonferenz in Deutschland wurden die Ansprüche der Theorie und Bewegung zusammengetragen

  • Christina Focken
  • Lesedauer: 8 Min.
Weiße Herrschaft feiert sich selbst: Ein Schnappschuss von der »Hamburger Kolonialwoche« 1926
Weiße Herrschaft feiert sich selbst: Ein Schnappschuss von der »Hamburger Kolonialwoche« 1926

»Wir sind Protagonist*innen der Geschichte. Deshalb haben wir uns versammelt«, sagt Ruth Wilson Gilmore. Sie spricht auf der internationalen Konferenz »Racial Capitalism – Krisen – Abolition«, zu der am 23. und 24. Juni in Hamburg rund 500 Menschen zusammenkamen. Die Veranstaltung war gut besucht, aber mit dem Begriff Abolitionismus können derweil wohl erst wenige Menschen in Deutschland etwas anfangen. Hat er nicht etwas mit der Abschaffung der Versklavung zu tun?

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Tatsächlich entspringt der Begriff dem Kampf gegen den Plantagenkapitalismus, aber Vanessa E. Thompson, Mitorganisatorin der Konferenz, erklärt: »Abolitionismus hat sich nie nur auf die Abschaffung der Versklavung bezogen, sondern auf die Abschaffung der gesellschaftlichen Verhältnisse, der Produktions- und Beziehungsweisen, die diese Ausbeutungsprojekte erst hervorbringen.« Heutzutage kritisiert Abolitionismus unter anderem das Gefängnissystem, Grenzregime und Polizei. All dies betrachten Abolitionist*innen als Kontinuitäten der Versklavung. Wie bei den Kämpfen im 19. Jahrhundert geht es darum, die Systeme anzugreifen, welche hinter repressiven Institutionen stehen – zum Beispiel den Kapitalismus. »Abolitionismus ist immer auch Antikapitalismus«, erklärt Thompson.

Die Soziologin publizierte im vergangenen Jahr gemeinsam mit dem Philosophen Daniel Loick den Sammelband »Abolitionismus. Ein Reader«. Es ist das erste deutschsprachige Buch zu dem Begriff und nun organisierten Thompson und Loick gemeinsam mit der Politikwissenschaftlerin Veronika Zablotsky und vielen Freiwilligen die erste abolitionistische Konferenz in Deutschland. »Für uns war es wichtig, gerade vor dem Hintergrund der Verschärfung der Krisen des Kapitalismus, der stets über Rassismus operiert, eine Konferenz zu organisieren, mit der wir dazu beitragen können, dass sich die Bewegungen und ihre verschiedenen abolitionistischen Kämpfe stärker ins Verhältnis setzen können«, erklärt Thompson. Ereignisse wie der rechtsterroristische Anschlag in Hanau hätten das Interesse am Thema verstärkt: »Wir haben in den letzten Jahren gemerkt, dass Abolitionismus noch mal neu auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Das heißt jetzt nicht, dass Abolitionismus in Deutschland neu ist. Aber er hat eine neue Dynamik.«

Abolitionistische Kämpfe in Deutschland

Denn während der Begriff sich noch nicht durchgesetzt hat, gibt es abolitionistische Themen und Kämpfe in Deutschland schon lange. Der Veranstaltungsort Hamburg ist dafür ein gutes Beispiel: Aufgrund des Hafens war die Stadt eine Metropole der Kolonialzeit und wird für immer damit verbunden bleiben, sagt Daniel Loick in der Einführung zur Konferenz. Er nennt weitere Beispiele: 1994 wurden im Rahmen des »Hamburger Polizeiskandals« Fälle von Misshandlungen an hauptsächlich Schwarzen Männern durch Polizist*innen bekannt, im Jahr 2001 starb der Geflüchtete Achidi John hier, nachdem man ihm unter Zwang Brechmittel einflößte.

Doch Hamburg sei auch eine Stadt des Widerstands, so Loick: Bereits 1930 organisierte der Panafrikanist George Padmore hier die erste internationale Konferenz Schwarzer Arbeiter der Liga gegen den Imperialismus. Die Hansestadt war außerdem Schauplatz von Protesten wie etwa 1968 gegen den Springer-Konzern. Beim Abolitionismus geht es immer auch darum, etwas Neues zu erschaffen, sagt Vanessa E. Thompson bei einer Diskussionsrunde. Der Begriff bedeute wörtlich Abschaffung, so Thompson, aber Abolition sei »vielmehr radikale Transformation als Abschaffung«. Wie radikal, zeigt ein Zitat von Ruth Wilson Gilmore: »Abolition setzt voraus, dass wir eine Sache ändern: nämlich alles.« Dieses Postulat dient als Motto der Konferenz, wenn nicht gar der ganzen Bewegung. An diesem Wochenende hängt es, auf Poster gedruckt, an Säulen, Wänden und dem Stehpult auf der Bühne.

Das zeigt auch, welche Bedeutung die 73-jährige US-Amerikanerin für die Abolitionismusbewegung hat. Als Professorin für Geografie erforscht sie seit mehr als 30 Jahren Räume und Praktiken staatlicher Überwachung, wie etwa das Gefängnissystem. Sie hat mehrere Bücher darüber geschrieben, unter anderem »Golden Gulag: Prisons, Surplus, Crisis, and Opposition in Globalizing California«. Außerdem ist sie Mitgründerin verschiedener Organisationen, wie etwa Critical Resistance zusammen mit Angela Davis. Ruth Wilson Gilmore ist allerdings nicht nur zu dieser Konferenz gekommen, um ihren Vortrag zu halten. Sie möchte mit ihrer Teilnahme auch die internationale Gemeinschaft der Abolitionist*innen aufbauen, erklärt sie. Denn dies sei keine nordamerikanische Bewegung, wie einige denken. »Auf dieser Konferenz sind Menschen aus aller Welt. Viele von ihnen sind selbst Migrant*innen. Das gibt uns die Gelegenheit, über viele verschiedene Dinge zu sprechen.«

Abolitionistischer Internationalismus

Tatsächlich kamen die Teilnehmenden nicht nur aus Deutschland und Europa, sondern auch vom afrikanischen Kontinent, aus den Amerikas und Ozeanien, wie Mitorganisatorin Veronika Zablostky erklärt. Außerdem will Wilson Gilmore auf der Konferenz Debatten innerhalb der Bewegung führen: »Die zweite Sache ist, zusammen mit den Genoss*innen festzustellen, wo wir uns untereinander noch nicht verstehen. Eine kleine Diagnose zu stellen, wo wir uns verstehen und wie wir uns missverstehen in dieser Welt.«

»Eine der Herausforderungen im deutschen Kontext ist, Menschen damit vertraut zu machen, was wir mit Abolitionismus meinen«, erklärt Wilson Gilmore. Denn hier und in anderen europäischen Ländern verbänden viele den Begriff mit der Bewegung, die Sexarbeit abschaffen möchte. Hätten sie und die anderen Begründer*innen der Bewegung das gewusst, hätten sie vielleicht einen anderen Namen gewählt, sagt sie und lacht. Doch es gäbe gute Gründe, warum man sich für diesen Begriff entschieden habe. Denn er verweist auf die Wurzeln der Bewegung: »Wir zehren von einer jahrhundertelangen internationalistischen Tradition von Menschen, die sich organisiert haben, um gegen Armut, Versklavung, Unterdrückung und frühzeitigen Tod zu kämpfen.«

Als Wilson Gilmore für ihren Keynote-Vortrag an das Stehpult tritt, pfeift und bebt der Raum. Sie verbeugt sich, geht noch einmal nach vorne und knickst. In ihrem Vortrag spricht sie über George Floyd, der im Mai 2020 von einem Polizisten ermordet wurde. Trotz dieser entsetzlichen Geschichte strahlt Wilson Gilmore Zuversicht aus. Sie zeigt das Bild Floyds, welches an Hauswänden von Brasilien bis Pakistan um die Welt geht. Laut ihr ist es nicht das Abbild eines toten Mannes, sondern Zeichen eines internationalen Bewusstseins.

Auf der Konferenz sind Mitglieder verschiedenster Initiativen vertreten. Einer von ihnen ist William Dountio. Er erscheint am ersten Tag mit einem gelben T-Shirt auf dem steht »Free Hugs to save the World«. Mouhamed Lamine Dramé trug am 8. August 2022 ein T-Shirt mit derselben Aufschrift. An diesem Tag hatte der 16-jährige aus dem Senegal eine psychische Krise. Statt Hilfe zu erhalten, wurde er von der Polizei erschossen. Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed, zu dem Dountio gehört, möchte, dass diese Tat nicht vergessen wird und darauf aufmerksam machen, dass die Ermordung von Mouhamed Lamine Dramé kein Einzelfall ist.

Kritik von unten

»Es ist wichtig für uns, hier zu sein, weil wir Abolitionismus als eine pragmatische, revolutionäre Art sehen, die Gesellschaft transformativ zu reformieren und besser, kollektiver und solidarischer zu gestalten«, erklärt Dountio. Die Initiative verwendet den Begriff Abolitionismus in ihrer Arbeit. Damit er sich weiterverbreitet, sagt Dountio, müsse man ihn zugänglicher machen. »Der Begriff wird manchmal zu sehr akademisiert. Die politische Arbeit zu diesem Begriff in Deutschland ist noch nicht so weit und breit, wie es sein sollte. Damit meine ich, dass wir mit diesem Thema sowohl Jugendliche, Schüler, Studenten und natürlich auch alle Communitys, zum Beispiel die LGBTQ+-Community, mit ins Boot nehmen müssen. Das ist ein Kampf der gesamten Gesellschaft und nicht der Kampf einer Elite.«

Ein Kampf der gesamten Gesellschaft gegen Rassismus, Kapitalismus, gegen Umweltzerstörung, Gefängnisse, Grenzregimes und mehr – nimmt sich die Bewegung damit nicht zu viel vor? »Ja«, sagt Ruth Wilson Gilmore. »Wir wollen alles! Was ist verwerflich daran, das so zu sagen? Wir wollen zu viel. Das ist genau das, was wir wollen. Wir haben genug von der Unterdrückung, wir haben genug vom System des Racial Capitalism. Und was wir sehen, ist, wie die verschiedensten Kämpfe, in die Menschen involviert sind, miteinander verbunden sind. Yes, we want it all.«

Der Abschlussvortrag trägt den Titel »Abolition must be … green, red, & international«. Es ist warm. Die Luft ist dick. Nach dem Panel heben sich einige Hände im Saal. Ins Mikro sprudelt es dann aus den Sprecher*innen heraus. Die Bewegung habe den Kontakt mit ihrer Basis, den Arbeiter*innen verloren, bemängelt jemand. Von der Abschaffung der Sklaverei hätten letztendlich weiße Menschen profitiert, gibt jemand anderes zu bedenken und fragt: »Was machen wir heute anders?«

Es geht nicht nur um Zweifel an der Bewegung. Einige nutzen den Raum, um auf die Anliegen ihrer Initiative aufmerksam zu machen – auch als die Zeit für Fragen bereits vorbei ist. Bei einem Getränk auf dem Hof merkt jemand an: »Sie haben die emotionalen Dynamiken unterschätzt, die dabei entstehen.« Vanessa Thompson sagt: »Abolitionismus ist nicht unbedingt eine einheitliche Bewegung. Zudem wirken stets emotionale Dynamiken; das sind harte Themen, die Menschen auch unterschiedlich betreffen. Das hat einfach noch mal gut gezeigt, dass es da natürlich auch noch viel zu diskutieren und zu bearbeiten gibt.«

Hierfür ist die sehr gut besuchte Konferenz in Hamburg jedenfalls ein Anfang. Wie die Co-Organisatorin Veronika Zablotsky bereits in der Eröffnungsrede erklärt: Sie und ihre Kolleg*innen verstehen die Konferenz als kleinen Schritt in einem Prozess zu einem viel größeren Projekt. Teil dieses Prozesses muss nun das sein, was Ruth Wilson Gilmore als eines ihrer Ziele für die Konferenz formulierte: festzustellen, wo die Akteur*innen sich verstehen und wo sie sich noch missverstehen. Nur so können sie unter dem Konzept des Abolitionismus zukünftig gemeinsam kämpfen.

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