»Höhere Gewalt«: EU will Grenzen dicht machen

In Brüssel wird an neuen Verschärfungen der Migrationsabwehr gearbeitet

Menschenrecht auf Asyl nicht mehr in Sicht: An der EU-Grenze zwischen Griechenland und der Türkei
Menschenrecht auf Asyl nicht mehr in Sicht: An der EU-Grenze zwischen Griechenland und der Türkei

Am 8. Juni haben sich die Innenminister der EU-Staaten auf ihre Verhandlungsposition zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) geeinigt. Zur Abstimmung standen eine Verordnung für die Neugestaltung von Asylverfahren und eine zum Asyl- und Migrationsmanagement. Beide Regelungen würden das Recht auf Asyl in der Europäischen Union drastisch einschränken.

Nun liegen die nächsten Vorschläge zur Abriegelung der Festung Europa auf dem Tisch der EU-Innenminister: Mit einer als »Krisen-Verordnung« bezeichneten Regelung sollen Asylsuchende bedeutend länger an Außengrenzen inhaftiert werden können. Hinzu kommt eine Neufassung des Schengener Grenzkodex, wonach Mitgliedstaaten Kontrollen an Grenzübergängen wieder einführen dürfen. Vorher soll die Europäische Kommission einen »Massenzustrom von Migranten« ausrufen.

Erste Vorschläge zur GEAS-Reform stammen schon aus dem Jahr 1999, mit den Fluchtbewegungen von 2015 haben sie abermals an Fahrt gewonnen. Jedoch stockten die Verhandlungen wegen der harten Linie von Staaten wie etwa Polen oder Ungarn. Ab 2020 hat die Kommission deshalb vorgeschlagen, das GEAS-Gesamtpaket in neun einzelne Richtlinien und Verordnungen aufzuteilen. Das Vorhaben trägt in Brüssel den Titel »Pakt zu Migration und Asyl«.

Die Asylverfahrensverordnung, auf deren Verhandlungsposition sich die Innenminister nun geeinigt haben, soll die rechtliche Möglichkeit sogenannter Grenzverfahren schaffen. Asylanträge von Personen aus bestimmten Herkunftsländern könnten dann im Schnellverfahren in haftähnlichen Lagern an den EU-Außengrenzen bearbeitet werden. Gemäß einer ebenfalls neuen Screening-Verordnung werden dabei zunächst biometrische Daten erfasst. Dabei wird so getan, als seien die Betroffenen noch nicht in die Union eingereist (die sogenannte »Fiktion der Nicht-Einreise«). Das beschleunigte Asylverfahren soll in höchstens zwölf Wochen abgeschlossen sein, der Zugang zu Rechtsmitteln gegen ablehnende Bescheide ist dabei beschränkt. Betroffen sind davon alle Flüchtenden, die entweder keine gültigen Dokumente bei sich tragen oder die bei einer Anhörung widersprüchliche Angaben gemacht haben. Auch bei allen aus Seenot Geretteten soll geprüft werden, ob ein beschleunigtes Verfahren durchgeführt werden muss. Ins Grenzverfahren müssen auch Menschen, die aus Ländern stammen, bei denen Asylanträge häufig abgelehnt werden. Nach dem Willen der EU-Staaten soll diese »Schutzquote« bei höchstens 20 Prozent liegen. Um welche »sicheren Drittstaaten« es sich dabei handelt, muss noch festgelegt werden, der Verordnungsentwurf nennt etwa zahlreiche Balkan-Staaten und die Türkei. Dorthin könnten abgelehnte Asylsuchende dann abgeschoben werden.

Die ebenfalls von den Innenministern beschlossene Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung soll die Dublin-III-Verordnung ersetzen, nach der die Zuständigkeit für Asylbewerber bei jenen Staaten liegt, in die sie zuerst eingereist sind. Länder wie Griechenland und Italien sind dadurch benachteiligt und haben Geflüchtete deshalb immer wieder ermuntert, in andere EU-Staaten weiterzureisen. Mit der neuen Verordnung zum Asyl- und Migrationsmanagement können sie jedoch unter bestimmten Bedingungen einen erhöhten »Migrationsdruck« ausrufen und andere Mitgliedstaaten bitten, Schutzsuchende aufzunehmen und deren Asylanträge zu bearbeiten. Alle 27 EU-Mitglieder sollen der Europäischen Kommission dafür jährlich ihre Kapazitäten mitteilen, diese werden anschließend in einem »Solidaritätspool« verzeichnet. Die hierfür nötigen Finanzmittel sollen aus Brüssel bereitgestellt werden. Staaten, die sich nicht am »Solidaritätspool« beteiligen, können sich gemäß der neuen Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung davon freikaufen. Für jeden nicht aufgenommenen Asylsuchenden müssen die Regierungen nach derzeitigem Vorschlag 20 000 Euro in einen Fonds für Migrationsmanagement bezahlen.

Mit der nun von den Innenministern diskutierten Krisen-Verordnung sollen die besonders betroffenen Ankunftsländer von Geflüchteten in der EU entlastet werden. Voraussetzung wäre, dass die Kommission hinsichtlich zunehmender Migration eine »Krise«, »höhere Gewalt« oder »Instrumentalisierung« von Flüchtenden durch einen benachbarten Drittstaat oder einen »nichtstaatlichen Akteur« feststellt. Dann könnten andere EU-Staaten verpflichtet werden, Schutzsuchende zu übernehmen und ihre Asylanträge zu bearbeiten – oder aber Finanzmittel für die »Bewältigung der Situation« bereitzustellen, darunter auch zur Migrationsabwehr in »relevanten Drittländern«. Allerdings ginge auch die Umverteilung Schutzsuchender über die Köpfe der Betroffenen hinweg, denn diese könnten nicht mitentscheiden, in welche Länder sie geschickt würden. Nicht nur deshalb wird die Krisen-Verordnung von verschiedenen Seiten heftig kritisiert. Denn sie würde auch die Verlängerung der Grenzverfahren unter haftähnlichen Bedingungen auf bis zu fünf Monate ermöglichen. Überdies würde die in der Asylverfahrensverordnung bestimmte »Schutzquote« auf 75 Prozent angehoben, also noch mehr Menschen in das umstrittene Grenzverfahren gezwungen. »Das ist eine Krise der Menschlichkeit und eine Krise der Menschenrechte. Es ist auch eine Krise der Rechtsstaatlichkeit in der EU«, haben 55 Organisationen aus Deutschland deshalb in einem Offenen Brief festgestellt.

Zur Krisen-Verordnung müssen die EU-Innenminister ihre Verhandlungsposition noch festlegen, zur Änderung des Schengener Grenzkodexes ist dies bereits im vergangenen Jahr geschehen. Der Grenzkodex regelt unter anderem das Verbot von Binnengrenzkontrollen, das nach dem Amsterdamer Vertrag von 1997 für alle alten und neuen EU-Mitglieder verbindlich ist. Allerdings gibt es Ausnahmen, die nun erweitert werden. Möglich wäre dies zur »Bekämpfung der Instrumentalisierung von Migrationsströmen« oder im Falle einer »Gesundheitskrise«, etwa einer Pandemie wie unter Corona-Bedingungen. Dann können Kontrollen an Grenzübergängen oder »alternative Maßnahmen« wie vermehrte Polizeikontrollen im Grenzgebiet eingeführt werden.

Die Neufassung soll neben der Intensivierung der Grenzüberwachung außerdem die Schließung einzelner Grenzübergangsstellen an den Außengrenzen ermöglichen – ein absolutes Novum in der Geschichte der Union.

Sämtliche der beschriebenen Verordnungen im »Pakt zu Migration und Asyl« müssen noch im Europaparlament diskutiert werden. Erst wenn auch dieses seine Position festlegt, können die EU-Innenminister darüber mit den Abgeordneten verhandeln. Der Zeitplan ist ehrgeizig: Bis zum Frühjahr 2024, also kurz vor der Europawahl, soll die Abriegelung der Festung Europa und Aushöhlung des Asylrechts vollzogen sein.

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