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Niederlande: Hat Rutte sich verzockt?
Nach dem Zerfall der niederländischen Regierung kündigt ihr Chef seinen Rückzug aus der Politik an
Mitte der vergangenen Woche fegte Sturmtief Polly über die Niederlande und richtete reichlich Schaden an. Am Ende derselben Woche standen die Zeichen wieder auf Sturm, dieses Mal aber in der Regierung. Am Freitag dann die Meldung: Die niederländische Regierung zerfällt, Ende des Jahres kommt es zu Neuwahlen. Und am Montag folgte der nächste Paukenschlag: Ministerpräsident Mark Rutte kündigte überraschend seinen Rückzug aus der Politik an. »Wenn die neue Regierung nach der Wahl vereidigt ist, werde ich aus der Politik ausscheiden«, teilte Rutte vor dem Parlament in Den Haag am Montag mit.
Der Grund dafür, dass die vier Regierungsparteien in den zurückliegenden Tagen wieder in intensive Verhandlungen gingen, ist ein im April erschienener Report mit Schätzungen, wie viele Flüchtlinge in den nächsten Jahren in die Niederlande kommen werden. Für 2023 werden demnach zwischen 67 000 und 76 000 Personen geschätzt. Beide Zahlen liegen weit über den 50 650 asylsuchenden Menschen (die aus der Ukraine nicht mitgerechnet), von denen das Kabinett bislang ausgegangen war.
Im Gespräch war ein Plan, Geflüchtete in zwei Kategorien aufzuteilen. Status A sollten jene erhalten, die in ihrem Heimatland von Verfolgung bedroht sind, Status B solche, die vor allgemeinen Gefahren, wie etwa einem Krieg, auf der Flucht sind. Letzterer Gruppe will vor allem die Mitte-rechts-Partei VVD von Regierungschef Mark Rutte eine kürzere Duldungszeit in den Niederlanden einräumen und Kriegsflüchtlingen Familienzusammenführungen erschweren. Diesen Vorschlägen stehen vor allem die Mitte-Links-Partei D66 und die christdemokratische Partei Christen Uni (CU) kritisch gegenüber.
Am Mittwochabend drohte Ministerpräsident Mark Rutte dann damit, den am Freitag tagenden Ministerrat abstimmen zu lassen. Dieses politische Mittel kommt nur selten zum Einsatz. In diesem Szenario wären durch die Anzahl der diesen Parteien angehörenden Ministerinnen und Minister Ruttes VVD und die auf einer ähnlichen Linie befindliche christdemokratische CDA im Vorteil. Am Freitagabend gegen 20 Uhr wurde dann das Ende des Kabinetts Rutte IV bekannt gegeben.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Wie geht es jetzt weiter? In Umfragen von Mitte Juni – also vor dem Zerfall des Kabinetts – lagen die VVD von Mark Rutte und die neue Bauern-Bürger-Bewegung (BBB) von Caroline van der Plas in der Wählergunst Kopf an Kopf vorn. Bei den niederländischen Provinzwahlen im März hatte die BBB mit konservativen bis rechtspopulistischen Positionen den Sieg eingefahren. Neuwahlen zum Parlament kann es nach dem Wahlrecht frühestens Mitte November geben. Während der politischen Hängepartie bis dahin will Rutte als Interimsregierungschef im Amt bleiben. Am Montag sollte darüber im Parlament abgestimmt werden.
In der niederländischen Presse und den sozialen Medien war das Vorgehen des Regierungschefs auf viel Kritik gestoßen. Von Daumenschrauben und fiesen Machtspielchen war die Rede. Peter Sas von der Sozialistischen Partei (SP) kommentierte: »Rutte stellt jetzt ganz klar das Wahleigeninteresse der VVD über das allgemeine Interesse der Niederlande. Was Rutte eigentlich sagen will, ist: Lasst all die brennenden Themen (Wohnungskrise, Klimakrise, Stickstoffkrise, Armut usw.) erst einmal beiseite, für mich ist der Wahlsieg im Moment wichtiger.«
Politisches Kalkül vermutet auch Kommentator Marc Chavannes: »Rutte hofft, die BBB hinter sich lassen zu können, denn das Regieren kommt zu früh für eine Partei mit nur einem Sitz in der Zweiten Kammer, vielen neuen Sitzen in den Provinzen, aber null Regierungserfahrung«, schrieb er auf dem linken Online-Portal »decorrespondent«. Chavannes sieht das aktive Scheitern-Lassen der Koalition beim Thema Asylpolitik durch die VVD als eine Methode, sich weiter rechts zu profilieren, um Stimmen zurückzugewinnen.
Ob Rutte dabei auch einkalkuliert hat, dass er bei potenziellen Koalitionspartnern der VVD nun möglicherweise nicht mehr akzeptiert wird, ist ungewiss. Nach einer Umfrage des Nachrichtenmagazins EenVandaag beim öffentlich-rechtlichen Fernsehsender NPO1 finden 62 Prozent das Aus für das Kabinett Rutte IV wegen des Streits um die Asylpolitik gut. Drei Viertel der Befragten sprechen sich gegen eine weitere Amtszeit Ruttes aus.
Rutte hat schon so manche Krise überstanden. Im Zuge der Kindergeldaffäre, bei der die niederländische Steuerbehörde unrechtmäßig hohe Summen von zumeist migrantischen Familien zurückgefordert hatte, trat im Januar 2021 das komplette Kabinett Rutte III zurück. Spätestens seit diesem Skandal trägt der Ministerpräsident in den Niederlanden (und auch international) den Namen Teflon-Mark, weil jeder politische Fehltritt von ihm abzugleiten zu scheint. Im März desselben Jahres folgten Neuwahlen, doch die Regierungsbildung dauerte bis zum Januar 2022. Wieder mit Rutte an der Spitze.
Wie die nächste Koalition aussehen wird, ist die große Frage. Rutte jedenfalls sieht sich »nicht mehr in der Position, Spitzenkandidat auf der Liste der VVD zu sein«.
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