»Take back the Night«-Demonstrantin: Vor Gericht wird alles gut

Jedenfalls manchmal: Aktivistin muss 300 Euro an ein Hospiz zahlen

  • Noah Kohn
  • Lesedauer: 4 Min.
Bei der »Take back the Night«-Demo protestieren FLINTA* in der Walpurgisnacht gegen das Patriarchat.
Bei der »Take back the Night«-Demo protestieren FLINTA* in der Walpurgisnacht gegen das Patriarchat.

Dienstagmittag. In der Kirchstraße in Alt-Moabit flanieren Anwohner und Werktätige in den kleinen Cafés und suchen kühlespendenden Schatten unter Sonnenschirmen und Bäumen. Vor dem schlichten Gebäude des Amtsgerichts Tiergarten steht ein Polizist und beobachtet, was sich auf der gegenüberliegenden Straße zuträgt. Rund 20 Menschen stehen beisammen und rufen »Solidarität mit Laura!«.

Abonniere das »nd«

Linkssein ist kompliziert. Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen. Jetzt abonnieren!

Die jungen Menschen sind gekommen, um Laura M. (Name von der Redaktion geändert) zu unterstützen. »Es gibt mir super viel Kraft, nicht alleine zu sein mit dieser Repression«, sagt Laura M. im Gespräch mit dem »nd«. Die Berliner Staatsanwaltschaft wirft Laura M. einen tätlichen Angriff und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte bei der »Take back the Night«-Demonstration in der Walpurgisnacht letzten Jahres vor.

Unter dem Motto »Take back the Night! Für die Zerschlagung des Patriarchats!« protestierten am 30. April 2022 etwa 3000 FLINTA* (Frauen, Lesben, Inter-, nichtbinäre-, trans* und Agender-Personen) gegen sexuelle Gewalt, Diskriminierung, Ungleichheit und das Patriarchat. »Es geht nicht nur um mich heute, sondern es geht um uns«, sagt Laura M.

»Take back the Night« ist eine internationale Bewegung, jährlich finden Dutzende Veranstaltungen in über 30 Ländern statt. »Es geht ganz darum, einen Raum zu schaffen für FLINTA*-Menschen, um sich wieder stark und selbstbestimmt fühlen zu können. In einer Gesellschaft, in der queere und weibliche Körper permanent eingeschränkt und angegriffen werden«, sagt Laura M. zu »nd«.

Eine der ersten »Take back the Night«-Demos fand 1975 in Philadelphia statt. Auslöser war der Mord an der Mikrobiologin Susan Alexander Speeth, die auf dem Nachhauseweg erstochen wurde. In der BRD gingen 1977 in München erstmals Frauen auf die Straße, um gegen sexuelle Gewalt und Belästigung in der nächtlichen Öffentlichkeit zu demonstrieren.

In Berlin findet die »Take back the Night«-Demo seit 2021 in der Nacht zum 1. Mai statt, wie auch letztes Jahr. »Im Rahmen dieser Veranstaltung wurden polizeifeindliche Sprüche skandiert, Flaschen auf Polizeibedienstete geworfen und die Auseinandersetzung mit ihnen gesucht«, heißt es im kürzlich veröffentlichten Jahresbericht des Berliner Verfassungsschutzes über die »Take back the Night«-Demo in Prenzlauer Berg.

»Es ist sehr überraschend, dass die Staatsanwaltschaft das durchgezogen hat, ganz ohne Beweise«, kommentiert Laura M. die Vorladung. »Die staatlichen Repressionen gegen antikapitalistische Aktivistinnen oder für feministische Aktivistinnen werden immer stärker«, sagt Laura M.

»Man hat sehr schnell solche Verfahren am Hals. Die Strafbarkeitshürde ist in den letzten Jahren immer weiter herabgesenkt worden. Ein kleines Unterhaken kann schnell als Tätlichkeit gewertet werden. Das ist unverhältnismäßig«, erklärt Niklas Schrader, innenpolitischer Sprecher der Berliner Linksfraktion, gegenüber »nd«.

Ein Polizist, der die Demonstration damals begleitet hat und als Zeuge in der Verhandlung auftritt, sagt aus, Laura M. habe ihm im Gemenge mehrmals gegen das Schienbein getreten. Derweil schallt von der Kundgebung auf der gegenüberliegenden Straßenseite Musik aus einem Lautsprecher in den stickigen Gerichtssaal. »Fuck the Police« und »Bleibt kriminell« tönt es in den Schlachtliedern des feministischen Unterstützungskreises. Einige Zuschauer im Saal müssen schmunzeln. Ein Justizbeamter schließt die Fenster.

»Die Zeugenaussagen der Polizisten werden in der Regel vom Gericht als höherwertig eingestuft«, sagt Schrader. Doch nicht an diesem Tag. Ein Video des Demonstrationsgeschehens, das der Verteidiger von Laura M. dem Richter vorlegt, deckt sich nicht mit den geschilderten Erinnerungen des Polizisten. Nach kurzer Unterbrechung verkündet der Richter, dass das Verfahren wegen Zweifel an der Schuld von Laura M. gegen Zahlung einer Geldauflage von 300 Euro an ein Kinderhospiz im Friedrichshain eingestellt wird. »Voll gut!«, freut sich Laura M. – und die Musik vor dem Gerichtsgebäude wird gleich noch ein bisschen lauter aufgedreht.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.