- Politik
- Wahlen in Guatemala
»Die Menschen halten es nicht mehr aus«
In Guatemala wurde gewählt. Raúl Eduardo Najera von der Partei MLP spricht über den mühseligen Kampf der Linken und über die ausufernde Macht der Oligarchie
Kein Kandidat und keine Kandidatin hat bei der Präsidentschaftswahl am 25. Juni mehr als 50 Prozent der Stimmen erhalten. Es wird also im August zu einer Stichwahl kommen – zwischen der früheren Präsidentengattin Sandra Torres von der Partei UNE, die 15 Prozent erhalten hat, und dem Zweitplatzierten Bernardo Arévalo von der Mitte-Links-Partei Movimiento Semilla, für den 12 Prozent der Wahlberechtigten votierten. Sind Sie überrascht von der Wahlnacht?
Für alle war es eine Überraschung. Dass Arévalo sich für den zweiten Wahlgang qualifiziert hat und Zury Ríos (die Tochter des früheren Generals und Putschisten Efraín Ríos Montt, Anm. d. Red.) praktisch verdrängt hat. Mit den vielen Stimmen für die Semilla-Partei waren nicht zu erwarten. Das ist ein großer und wichtiger Triumph. In Semilla haben sich die Anstrengungen der sozialen Prozesse der letzten Jahre nun konkretisiert. Das gelang vor allem durch die urbane Unterstützung. Bei vielen jungen Studenten hat Semilla die soziale Unzufriedenheit gut kanalisieren können. Durch die Tatsache, dass das Kandidatenduo der MLP (Bewegung für die Befreiung der Völker) nicht zugelassen wurde, haben jetzt viele so gewählt. (Im Vorfeld der Wahl waren insgesamt drei Kandidaten unter fadenscheinigen Gründen von der Wahl ausgeschlossen worden, Anm. d. Red). Wir von der MLP haben natürlich auch viel für die Semilla-Partei gestimmt. In der jetzigen Situation braucht es ein hohes Maß an politischer Reife und Pragmatismus. Die Unternehmer-Elite des Landes wird nun versuchen, Pakte zu schmieden. Wir müssen mit dem wenigen arbeiten, was wir arbeiten – und das heißt im Moment Semilla.
Die meisten Parteien haben im Wahlkampf einen Regierungsstil der »harten Hand« gefordert, ähnlich wie es in El Salvador geschieht, wo Präsident Nayib Bukele im Ausnahmezustand durchregiert und Zehntausende Menschen einknastet. Gefällt das den Menschen hier?
Dieser Diskurs ist tatsächlich populär. In der Gesellschaft ist die Forderung nach staatlicher Gewalt stark ausgeprägt. Das wurde uns von oben aufgedrückt. Gewalt löse vermeintlich die Probleme. Diese Idee wollen sie uns in Guatemala schon seit vielen Jahrzehnten verkaufen. Es wird immer bloß auf eine sofortige Lösung gepocht: bestrafen und töten. Zury Ríos und viele andere Kandidaten benutzen diese Rhetorik der »harten Hand«. Es gibt leider auch viel Kriminalität Land. Doch nie wird nach Antwort auf die strukturellen Ursachen der Gewalt gesucht.
Die Menschen wollen einfache Lösungen, und die Politiker bieten diese vermeintlich an. Zury Ríos ist sogar nach El Salvador gereist, um die Bukele-Politik vor Ort zu begutachten.
Nahezu alle Kandidaten gehen darauf ein – aber im Besonderen Zury Ríos. Was einen nicht verwundern sollte, wenn man sich die Familie anschaut, aus der sie stammt. Sie kommt aus der Familie eines Diktators und Massenmörders.
Genau jene Tochter des Massenmörders Efraín Ríos Montt, der vom März 1982 bis August 1983 Guatemala diktatorisch regierte, ist jetzt zur Präsidentschaftswahl aufgestellt worden. Wie kann das eigentlich sein, wenn es die Verfassung doch unmissverständlich verbietet? Hat das Wahltribunal klammheimlich seine Haltung geändert, oder wird die Verfassung einfach missachtet?
Dafür gibt es eine logische Erklärung. Es ist tatsächlich verboten, dass Familienmitglieder eines Putschisten gewählt werden können. Das steht so in der Verfassung. Bei vergangenen Wahlen wurde ihr die Kandidatur auch mehrfach verweigert. Inzwischen hat aber der Corte de Constitucionalidad (CC) als Oberstes Gericht einen Richter in seinen Reihen, der in den vergangenen Wahlen als Vizepräsidentschaftskandidat von Zury Ríos aufgestellt worden war. Im Jahr 2013 stimmte er außerdem dafür, dass die Anklage wegen Völkermords gegen Efraín Ríos Montt aufgehoben wird. Ein weiterer Richter am CC ist ein Anwalt von Zury Ríos. Die höchste gerichtliche Instanz des Landes vereint also mehrere korrupte Figuren. Auch die Präsidentin des CC steht durch Familienverbindungen dem Militär nahe. Mittels dieser tiefgreifenden Verflechtungen, die auf religiöse, soziale, politische sowie familiäre Bindungen resultieren, konnte sich Zury Rios nun doch als Kandidatin aufstellen lassen.
Wegen der desolaten Situation in Guatemala, durch die korrupte Machtelite, einer fehlenden Gewaltenteilung und mangelnden Alternativen hätte ich an den Wahllokalen weniger Menschen erwartet.
Viele Menschen gehen aber weiterhin raus zum Wählen. Was die Wahlkampagnen in Guatemala auszeichnet, ist, dass die politischen Parteien während des Wahlkampfs Dinge an die Leute verschenken: Hemden, Fernseher, Mixer, Blechdächer, Lebensmittel.
Raúl Eduardo Najera gehört der linken Partei MLP an und engagiert sich in der Organisation Hijos, die in Argentinien und Guatemala von Angehörigen jener Menschen gegründet wurde, die durch das Militär verschleppt und getötet wurden. In Guatemala-Stadt haben die Aktivist*innen zahlreiche Morddrohungen erhalten.
Brot und Spiele.
Genau. Daher nehmen also nach wie vor viele Menschen an diesem Zirkus teil – in der Hoffnung, dass die Partei, für die sie gewählt haben, die Probleme in ihrem Leben löst.
Das Interview wird unterbrochen, denn alle 20 Minuten klingelt Raúls Handy. Er klebt am Hörer, tauscht sich mit Kolleg*innen über Ereignisse und Auffälligkeiten bei der Wahl aus. Hier, in der Periphere der Hauptstadt, gesäumt von grünen Bergen und trötenden Tuk-Tuks, gibt es keine internationalen Wahlbeobachter*innen. Die Armut der Menschen wird von den Parteien zum Stimmenkauf missbraucht. Mit ihren Problemen jedoch sind sie alleine.
Als wir vorhin zusammen in der Zone 24 der Peripherie von Guatemala-Stadt unterwegs waren, hat eine Frau über das Problem der Wasserversorgung geklagt. Das Erstaunliche dabei war, dass dieses Problem schon seit vielen Jahren besteht. Aber kein Politiker hat ansatzweise Abhilfe geschafft.
Natürlich. Die Politiker helfen den Bürgern nicht, weil es sie schlicht nicht interessiert. Ein Problem in diesem Zusammenhang hat vor einigen Jahren die mittlerweile vertriebene Cicig (Internationale Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala, Anm. d. Red.) hervorgehoben: Die meisten politischen Parteien im Land sind durch die Narcos, die Drogenkriminellen finanziert. Bürgermeister und Abgeordnete werden also von den Drogengangs gestellt und finanziert.
In sozialen Netzwerken kursieren Aufrufe zum Nichtwählen. Wäre der »voto nulo« wirklich eine Alternative?
Ich denke schon, dass das eine Alternative darstellt. Das Problem dabei ist nur, dass die leeren Stimmzettel die 50-Prozent-Marke der Gesamtwählerstimmen erreichen muss, damit es politisches Gewicht hat und Neuwahlen ausgerufen werden. Aber dieser Prozentsatz wird in der Praxis eben nie erreicht.
Der Ansatz bringt also nichts.
Ja. Und da die Zulassung des Kandidatenduos der MLP verhindert wurde, müssen jetzt die anderen Kandidaten der Linken ran.
Was bedeutet der Ausschluss für die Demokratie in Guatemala?
Das alles ist Evidenz dafür, dass das System der politischen Parteien in Guatemala nicht funktioniert. Das System ist so konstruiert, dass sich die rechten Parteien stets an der Macht halten. Eine Chance auf eine echte linke Alternative wird einem nicht gelassen. Sie zwingen dich am Ende des Tages, unter einem aufoktroyierten System zu leben.
Wie würden Sie diese Form des Regierens beschreiben?
Es ist die Regierung einer Oligarchie. Sie haben uns nie einen Platz im politischen System zugesprochen. Lediglich zweimal kam das vor: Juan José Arévalo Bermejo war von 1945 bis 1951 der erste demokratisch gewählte Präsident Guatemalas. Ihm folgte dann Juan Jacobo Árbenz.
Aber nur drei Jahre. Árbenz wurde 1954 mit einem CIA-gestützten Putsch von der politischen Bühne gefegt.
Dabei war die Árbenz-Regierung gar nicht revolutionär. Árbenz’ Ziel war es, den Staat zu modernisieren. Dennoch hat alleine die Tatsache ausgereicht, dass er Reformen mit einem sozialstaatlichen Charakter plante – Reformen, keine umfassenden Transformationen! Das reichte aus, einen Staatsstreich gegen seine Regierung vom Zaun zu brechen. Die Oligarchie im Land wollte keine Reformen zulassen. Der Staatsstreich kam also nicht nur, weil das die CIA so wollte, sondern auch, weil es die Oligarchie so wollte. Sie wollte nicht einmal wahrnehmen, dass die Modernisierungspläne Arbenz’ ihnen eventuell in die Hände gespielt hätten.
José Rubén Zamora, der kürzlich festgenommene Journalist und Zeitungsinhaber, sagte im Fernsehen, eine Implosion täte Guatemala vielleicht mal ganz gut.
Das sagt uns ein Unternehmer, der im Sektor der alten Unternehmer-Elite vernetzt ist. Ein reicher Unternehmer also, der uns sagen will, was passieren muss. Er weiß und versteht, dass das, was er Implosion nennt, die Bourgeoisie des Landes steuern muss. In seiner Vorstellung haben die Bauern und Indigenen weiterhin keinen Platz in der Gesellschaft.
Welche Rolle nimmt bei dem Ganzen die obskure »Stiftung gegen den Terrorismus« ein?
Die Besonderheit dieser Vereinigung ist, dass sie von Ex-Militärs gegründet wurde. Die »Stiftung gegen den Terrorismus« zeichnet sich durch drei wesentliche Elemente aus: Erstens hat sie unter ihren Mitgliedern solche mit direkten Verbindungen zu Militärangehörigen, die schwere Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Zweitens ist bewiesen, dass die Stiftung Geld von wichtigen guatemaltekischen Unternehmern bekommt, die wiederum in Megaprojekte involviert sind, was zu Konflikten in den örtlichen Communitys führt. Drittens prägt die Stiftung die herrschenden Regierungen. Seit 2015 war die »Stiftung gegen den Terrorismus« an drei Regierungen beteiligt. Sie hat gezielt Funktionäre in die Reihen dieser Regierungen eingeschleust. Das sind Politiker, die dem Militär nahestehen. Ihre Macht ist groß.
Sie agiert also wie ein langer Arm der korrupten Politik.
So ist es. Zudem unterhält die Stiftung auch sehr direkte Verbindungen zur Generalstaatsanwaltschaft.
Sehen Sie die Möglichkeit, dass sich die Vergangenheit wiederholt? Dass es erneut einen bewaffneten Konflikt gibt?
Nein. Ein latenter Konflikt ist zwar da, er schläft aber. Vor allem die indigenen Gemeinden, die Bauern halten das nicht mehr aus. Und sie haben alles Recht darauf, sich zu bewaffnen und zu verteidigen. Dazu wird es aber nicht kommen. Die einzige Option ist derzeit, Allianzen innerhalb der Linken zu bilden. Wir müssen eine Geschlossenheit zwischen indigenen Bewegungen, Bauern und der urbanen, intellektuellen Linken erreichen. Diese Einheit wurde bis jetzt leider noch nicht erreicht. Die MLP, sozusagen als politisches Instrument der Bauern, hat bisher keine Allianzen bilden können. Die Indigenen- und Bauernbewegungen sind in der Geschichte diejenigen, die am meisten ausgeschlossen wurden, aber auch die, die sich am meisten organisiert haben. Es braucht solche Allianzen, nur so wird es funktionieren.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.