600 ertrunkene Geflüchtete: Frontex und Küstenwache sahen zu

300 Wissenschaftler fordern eine Untersuchung auch gegen Frontex

Ein Überlebender erklärt Forensis die drei Decks der gesunkenen »Adriana«.
Ein Überlebender erklärt Forensis die drei Decks der gesunkenen »Adriana«.

Am 3. Oktober 2013 sank ein hölzernes Schiff mit flüchtenden Menschen vor der italienischen Insel Lampedusa, weit über 300 Menschen sind dabei ertrunken. Anschließend startete Italiens Marine die Mission »Mare Nostrum«, in der rund 125 000 Menschen in Seenot zum europäischen Festland gebracht wurden. Die EU-Grenzagentur Frontex hat diese staatliche Seenotrettung nach einem Jahr abgelöst und durch Flugzeuge und Drohnen ersetzt.

Fast zehn Jahre später ist am 14. Juni im Ionischen Meer vor der griechischen Stadt Pylos der Fischtrawler »Adriana« mit Hunderten Geflüchteten gesunken. Über 600 von ihnen könnten gestorben sein, nur 104 Menschen haben überlebt. Behörden aus Griechenland sowie Frontex sahen den Ertrinkenden zu, ohne selbst Hilfe zu leisten. Dazu war die griechische Küstenwache aber verpflichtet, denn die »Adriana« befand sich in ihrer Such- und Rettungszone.

In einem Offenen Brief an die Regierung in Athen und an die EU fordern nun über 300 Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern eine umfassende, transparente Untersuchung des Unglücks. Der Vorfall verdeutliche die dringende Notwendigkeit, gegen systematische Zurückschiebungen und die Unterlassung von Hilfe vorzugehen, heißt es darin. Kritisiert wird auch, dass die griechische Staatsanwaltschaft nicht prüft, ob die Küstenwache strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden muss.

Bedenken äußern die Unterzeichnenden auch hinsichtlich der Beteiligung von Frontex und ihrer rechtlichen Verpflichtungen in Rettungssituationen. Es sollte demnach unabhängig untersucht werden, ob Frontex nach der ersten Sichtung des Trawlers »alle vernünftigerweise zu erwartenden Schritte unternommen hat, um das Leben der Passagiere zu schützen«.

Nach mehreren Recherchen auch von deutschen Medien verdichten sich nun Hinweise, dass ein griechisches Küstenwachschiff mit der Kennung »PPLS 920« den ohnehin gefährlich schwankenden Trawler mit einem blauen Seil in eine Schieflage brachte, woraufhin dieser Minuten später gesunken ist. Ein weiteres, in einem Hafen in der Nähe festgemachtes Schiff der Küstenwache wurde gar nicht erst zu dem Seenotfall entsandt.

Die Erkenntnisse stammen aus einer vergangene Woche veröffentlichten Untersuchung der in Berlin ansässigen Organisation Forensis. Sie ist auf die technische Rekonstruktion von Menschenrechtsverletzungen spezialisiert. Für die Erstellung ihrer aufwendigen, interaktiven 3D-Modelle hat Forensis mit der Initiative Alarm Phone, deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, dem griechischen Nachrichtensender Solomon sowie dem britischen »Guardian« zusammengearbeitet. Auch Aussagen von Überlebenden sollen demnach von den Behörden manipuliert worden sein, um in der Öffentlichkeit kein schlechtes Licht auf die Küstenwache zu werfen. Dies haben nun auch eine Recherche der britischen BBC sowie das Alarm Phone bestätigt.

Die Journalisten und Forscher gründen ihre Thesen auf mehr als 20 Interviews mit Überlebenden, Quellen der Küstenwache und Gerichtsdokumente. Darin sind auch das Logbuch des Küstenwachschiffs und Aussagen des Kapitäns, Satellitenbilder und Informationen aus Videos vorbeifahrender Handelsschiffe enthalten.

Griechenlands Küstenwache bestreitet, überhaupt einen Schleppversuch unternommen zu haben. Jedoch stehen die letzten Bewegungen des Flüchtlingsschiffes dazu im Widerspruch. Denn wie die Forscher in ihrer 3D-Simulation zeigen, hat sich der Trawler vor dem Sinken ruckartig und nur über eine kurze Distanz bewegt. Überlebende haben unter anderem angegeben, das Schiff habe sich plötzlich »wie eine Rakete« nach vorne bewegt. Der Fischkutter sei nach rechts, dann nach links, dann wieder nach rechts geschwankt und schließlich auf die rechte Seite gekippt, wie weitere Überlebende berichten.

Die 3D-Modellierung von Forensis ergab außerdem, dass es nach einem ersten Riss des Seils insgesamt sogar zwei Schleppversuche gegeben haben könnte. Nun steht der Verdacht im Raum, dass die Küstenwache versucht hat, die Geflüchteten in Richtung Italien zu drängen, um sich der Verantwortung für ihre Rettung zu entledigen. Derartige Pushbacks in die Türkei sind zu Hunderten aus der Ägäis und auch von der Landgrenze am Fluss Evros bekannt.

Gerichtsfest belegen lassen sich die Erkenntnisse von Forensis wohl nur schwer. Fraglich ist auch, was mit den von den Behörden beschlagnahmten Handys der Überlebenden geschah, denn einige wollen kurz vor dem Untergang noch damit gefilmt haben. Unklar ist außerdem, weshalb Kameras mit Infrarottechnik, die an dem griechischen Patrouillenschiff angebracht waren, ausgeschaltet gewesen sein sollen – obwohl diese eigentlich bei derartigen Vorfällen automatisch rundum aufnehmen. Sogar die Aufzeichnung von Positionsdaten des Küstenwachschiffes wurde offenbar gestoppt – oder diese nachträglich gelöscht.

Auch Frontex hat den Offenen Brief der 300 Wissenschaftler erhalten. Am Unglück vor Pylos sind die EU und Frontex indirekt selbst beteiligt, denn die Anschaffung des Schiffs »PPLS 920« wurde zum größten Teil von der EU bezahlt, berichtet der »Guardian«. Es soll in Missionen von Frontex in Griechenland eingesetzt werden.

Frontex empfiehlt, dass – anders als beim Unglück vor Pylos – bei allen von der EU kofinanzierten Schiffen »konsequent per Video dokumentiert werden sollte«. Wie der »Guardian« erfahren haben will, könnte die EU dies zum Anlass nehmen, ihre Unterstützung für die Anschaffung weiterer griechischer Küstenwachschiffe einzustellen.

Jedoch wird sich die Grenzagentur auch nach dem Unglück vor Pylos wohl nicht aus Griechenland zurückziehen – obwohl Artikel 46 der Frontex-Verordnung dies bei Menschenrechtsverletzungen ausdrücklich ermöglicht. In einer Debatte des Innenausschusses im EU-Parlament plädierte der Frontex-Chef Hans Leijtens vergangene Woche für den Verbleib im Land, da ein Abzug »zu ernsthaften Konsequenzen führen könnte, auch in Bezug auf unsere Fähigkeit, Leben zu retten«.

Leijtens hat die Führung der Grenzagentur mit Sitz in Warschau erst in diesem Jahr übernommen. Bei seiner Vorstellung im EU-Parlament versprach er, Operationen in einem EU-Staat abzubrechen, wenn dort ernsthafte Verfehlungen durch nationale Grenzbehörden nachgewiesen würden.

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