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»Kinder sind immer mitbetroffen«

Die Frauenhauskoordinierung kritisiert fehlende Konzepte zur Prävention häuslicher Gewalt

  • Interview: Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 7 Min.
Für einen Schutzraum im Frauenhaus müssen Frauen und Kinder oft weite Wege in Kauf nehmen.
Für einen Schutzraum im Frauenhaus müssen Frauen und Kinder oft weite Wege in Kauf nehmen.

Eine Partnerschaft kann insbesondere für Frauen riskant sein. 157818 Opfer von Partnerschaftsgewalt hat die Polizei im vergangenen Jahr registriert, davon 126 349 Frauen. Tut die Bundesregierung genug, um Frauen vor Gewalt zu schützen?

Wir sehen erheblichen Handlungsbedarf, um Frauen vor Gewalt zu schützen. Es fehlen bundesweit etwa 14 000 Frauenhausplätze, demgegenüber stehen etwa 7000 vorhandene Plätze. Und auch die sind nicht immer allen Frauen zugänglich. Schwierig wird es beispielsweise, wenn eine Frau viele Kinder hat oder eine barrierefreie Unterkunft braucht.

Unter frauenhaus-suche.de können Betroffene nach freien Plätzen suchen. Bei einer Beispielsuche wurde mir der nächste freie Platz in Hannover angezeigt, fast 300 Kilometer von meinem Wohnort entfernt. Wie läuft so eine Suche üblicherweise ab?

Interview
Elisabeth Oberthür

Foto: privat

Elisabeth Oberthür ist Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei Frauen­hauskoordinierung e.V. (FHK). Deutschland­weit unterstützt der Verein über 270 Frauen­häuser und 300 Fachberatungs­stellen.

Die meisten Menschen nehmen zunächst telefonisch Kontakt zu einem Frauenhaus in der Umgebung auf. Dann muss das Frauenhaus beurteilen, ob es (geeigneten) Platz hat. Und häufig ist das nicht der Fall, weil die Frauenhäuser so überlastet sind, dass sie keinen Platz oder nur noch einen Platz für eine Frau ohne Kind freihaben.

Heißt das, dass die Frau in dem Zuhause bleibt, wo sie Gewalt erfahren hat?

Meist versuchen die Mitarbeitenden in den Frauenhäusern, die Betroffene woanders unterzubringen. Das ist aber auch abhängig davon, ob die Frau bereit und in der Lage dazu ist, sich weit von ihrem Wohnort zu entfernen, teils mehrere Bundesländer. Manchmal nehmen Frauenhäuser Frauen auf, obwohl sie eigentlich keinen Platz haben. Im schlimmsten Fall bleiben die Betroffenen in der gewaltgeprägten Situation.

Familienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) arbeitet an einem Gesetzentwurf, in dem ein Rechtsanspruch auf den Schutz vor Gewalt festgeschrieben werden soll. Das fordern Sie als Frauenhauskoordination schon sehr lange. Werden Punkte von Ihnen in den Entwurf einfließen?

Es ist ein sehr großer Schritt, dass das im Koalitionsvertrag zugesagt worden ist, und es wäre immens wichtig, dass unsere Expertise einbezogen wird.

Was sollte aus Ihrer Sicht auf jeden Fall in diesem Entwurf stehen?

Ganz wichtig ist, dass am Ende eine Regelung entsteht, die keine neuen Ausschlüsse produziert. Alle Frauen, die von Gewalt betroffen sind, müssen Zugang zu Schutz haben, unabhängig von ihrer Lebenssituation. Außerdem sollten die verbindlichen Mindeststandards und die Finanzierung zentrale Punkte berücksichtigen wie Inklusivität und Diskriminierungssensibilität. So müssen beispielsweise auch die Bedarfe von trans-, inter- und nicht-binären Personen, die ebenfalls besonders von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind, angemessen aufgefangen werden. Ebenso wichtig sind ein angemessener Personalschlüssel und genügend Ressourcen für bedarfsgerechte Betreuung der Kinder als Mitbetroffene häuslicher Gewalt. Aktuell wird die Kinderbetreuung in Frauenhäusern oft prekär finanziert, manchmal gar nicht oder nur über Spenden. Dabei leben mehr Kinder als Frauen im Frauenhaus.

Nach nd-Informationen plant das Familienministerium, das Gesetz in dieser Legislatur zu verabschieden. Das heißt möglicherweise erst 2025.

Wir würden uns natürlich wünschen, dass dieses wichtige Vorhaben noch schneller voranschreitet und besonders priorisiert wird. Jeder Monat und jedes Jahr, das man verstreichen lässt, bedeutet, dass sich für Schutzsuchende am hochproblematischen Status quo nichts ändert.

Ein Rechtsanspruch heißt noch lange nicht, dass es auch genügend Plätze gibt. Wir sehen das bei den Kita-Plätzen in Berlin, wo sich Eltern teils schon zu Beginn einer Schwangerschaft um einen Kita-Platz bemühen. Was müsste passieren, damit dann auch genügend Plätze entstehen?

Mit dem Rechtsanspruch wird die Finanzierung der Frauenhäuser bundesweit einheitlich geregelt. Damit gehen langfristige Verpflichtungen einher, Frauenhäuser vorzuhalten und angemessen zu finanzieren. Und das ist der erste große Schritt, der eine Änderung herbeiführen wird. Der nächste Schritt ist dann der Ausbau neuer Plätze, das Aufstocken von Personal und so weiter.

Innenministerin Nancy Faser (SPD) will die Polizei besser ausbilden und sicherstellen, dass Gewalttäter wirklich nicht mehr zurück in die Wohnung kommen. Der Schwerpunkt liegt offenbar auf Maßnahmen, die erst greifen, nachdem die Gewalt bereits passiert ist. Müsste es nicht mehr Prävention geben?

Schutz bedeutet langfristig auch, dass man die Gewalt selbst bekämpfen muss, das heißt, umfassend in Prävention investieren. Hier mangelt es in Deutschland grundlegend an einem Konzept, wie auch eine Kommission des Europarats im vergangenen Jahr geurteilt hat. Das heißt nicht, dass die angedachten Maßnahmen schlecht sind. Wir würden sehr begrüßen, wenn die Einhaltung von Betretungsverboten besser überwacht werden würde, weil diese regelmäßig gebrochen werden und das sehr gefährlich für Frauen sein kann. Im schlimmsten Fall kann das zu einem Femizid führen. Es bräuchte aber gleichzeitig primärpräventive Maßnahmen, die ansetzen, bevor die Gewalt passiert. Und das heißt – wenn wir mitdenken, wie viel Gewalt auch digital passiert und damit schon in zunehmend jungen Altersgruppen –, dass wir an Schulen, wenn nicht sogar Kindergärten anfangen müssen.

Und warum gibt es dafür kein Konzept?

Das eine ist, dass Prävention keine schnellen Erfolge verspricht. Ein Umdenken darüber, wie Männer und Frauen Beziehungen leben, passiert nicht innerhalb von vier Jahren. Das passt nicht gut in einen politischen Betrieb, der in Wahlperioden denkt und Erfolge vorweisen muss. Das andere ist, dass man dafür wirklich Geld in die Hand nehmen muss.

Die UN-Sonderberichterstatterin zu Gewalt gegen Frauen und Mädchen hat Ende Juni Deutschland stark kritisiert, weil hiesige Familiengerichte oft Umgangs- und Sorgerecht gewähren, obwohl der Vater der Mutter gegenüber gewalttätig war. Das ist ein Verstoß gegen die Istanbul-Konvention.

In der Praxis der Frauenhäuser ist es ein riesiges Problem, dass Frauen, die Schutz suchen und dringend benötigen, durch andere Institutionen außerhalb des Frauengewaltschutzes – seien es Familiengerichte, seien es Jugendämter – dazu genötigt werden, den Kontakt zu dem Gewalttäter aufrechtzuerhalten. Für Gewalttäter ist das ganz häufig ein willkommenes Werkzeug, um die Kontrolle über die Frau weiter auszuüben. Das geht so weit, dass im Teddy des Kindes Kameras versteckt werden. Das ist für die Frau sehr gefährlich und auch für die mitbetroffenen Kinder. In Deutschland entscheiden Familiengerichte häufig gemäß der Haltung: Wenn die Frau Gewalt erlebt hat, dann hat das mit dem Kind nichts zu tun. Das ist völlig falsch und wissenschaftlich nicht haltbar – Kinder sind bei häuslicher Gewalt immer mitbetroffen. Sie bekommen alles mit. Entsprechend wichtig wäre es, Entscheidungen im Kontext häuslicher Gewalt an Familiengerichten immer auch als Fragen des Kindeswohls zu betrachten. Wir wissen, dass Kinder, die in diesen gewaltgeprägten Beziehungen der Eltern aufwachsen, häufig später selbst in gewaltgeprägten Beziehungen landen – als Täter*innen oder als Betroffene.

Liegt das daran, dass man denkt, solange die Kinder nicht geschlagen werden, erfahren sie keine Gewalt?

Das Lagebild Häusliche Gewalt

Das Bundeskriminalamt hat in der vergangenen Woche zum ersten Mal das Lagebild Häusliche Gewalt veröffentlicht und damit die Auswertung der Kriminalstatistik zu Partnerschaftsgewalt um innerfamiliäre Gewalt ergänzt. Unter häusliche Gewalt fallen nun nach der Definition der Bundesregierung Gewalttaten, die innerhalb einer Beziehung oder zwischen ehemaligen Partner*innen stattfinden sowie solche zwischen Verwandten. Dabei ist es unabhängig davon, ob Betroffene und Täter*innen zusammenwohnen. Außerdem startet eine Dunkelfeldstudie in Zusammenarbeit von Bundesinnen- und Familienministerium mit dem BKA mit dem Titel »Lebenssituation, Sicherheit und Belastung im Alltag«. Expert*innen gehen von einem sehr hohen Dunkelfeld bei häuslicher Gewalt aus. Erste Ergebnisse werden für Anfang 2025 erwartet. udi

Wir haben in Deutschland die Tendenz, bei häuslicher Gewalt primär an ein blaues Auge, Schläge und physische Gewalt zu denken. Dieser physischen Gewalt gehen aber fast immer und oft jahrelang andere Gewaltformen voraus. Bei Partnerschaftsgewalt geht es um ein System von Gewalt, von Macht und Kontrolle. Und fast immer funktioniert das zunächst über psychische und soziale Gewalt. Das heißt auch, die Kinder wachsen in einem Haushalt auf, wo ein Klima von Angst herrscht, wo sie mitbekommen: Da ist eine Person permanent eingeschüchtert von der anderen Person.

Was müsste die Bundesregierung hier tun?

Eine der dringlichsten Maßnahmen wären verpflichtende Fortbildungen für angrenzende Systeme wie Jugendamt und Familiengerichte über die Dynamiken von häuslicher Gewalt.

Was gibt es noch für präventive Maß-
nahmen?

Prävention bedeutet auch, dass man Bedingungen schafft, in denen Frauen und Männer strukturell gleichberechtigt sind. Die öffentlichen Debatten neigen dazu, das »harte Thema« häusliche Gewalt getrennt von den vermeintlich »soften Themen« wie Gender-Pay-Gap oder Frauen in Führungspositionen zu betrachten. Dem ist nicht so, das eine bedingt das andere. Und zwar so stark, dass häusliche Gewalt und Gleichstellung viel umfassender zusammengedacht werden und entsprechend in allen Ressorts Thema sein müssten, nicht nur im traditionell schwächer finanzierten Familienministerium. Solange Frauen beispielsweise finanziell benachteiligt sind, wird es ihnen schwerfallen, sich aus Beziehungen zu lösen, in denen sie finanziell in der Abhängigkeit stehen. Denn für viele Frauen bedeutet der Schritt aus der Gewalt den Schritt in die Armut.

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