Gewalt bei Demo gegen Polizeigewalt

In Herford konnte eine Demo nach Polizeischüssen nicht wie geplant stattfinden

Eine Demonstration in Herford richtete sich gegen Gewalt der Polizei. Diese reagierte mit einem massiven Aufgebot.
Eine Demonstration in Herford richtete sich gegen Gewalt der Polizei. Diese reagierte mit einem massiven Aufgebot.

»Was soll das?« und »Ich stehe hier nur« sind zwei Sätze, die ein junger migrantischer Mann einem Polizisten entgegenhält, als dieser anfängt, ihn über die Berliner Straße in Herford zu schieben. Der Polizist schubst den Jugendlichen auf einer bestimmt 100 Meter langen Strecke. Er sei »aufgefallen« und solle jetzt »nicht frech werden«, heißt es von dem schwer bewaffneten und behelmten Polizisten. Diese Szene ist nur ein Aspekt dessen, warum in Herford am Samstag nicht gegen Polizeigewalt demonstriert werden konnte.

Blick zurück: Der Grund für die Demonstration ist eine Dummheit, die der 19-jährige Bilel G. am 3. Juni 2023 begangen hat. Er ist ohne Führerschein Auto gefahren und hatte kein Licht an. Als die Polizei ihn deshalb kontrollieren wollte, floh er mit dem Auto. Über das, was dann in einer Sackgasse in Bad Salzuflen geschehen ist, gibt es unterschiedliche Aussagen. Die offizielle Polizeiversion lautet so: Das Auto hat gewendet und ist auf die Beamten losgerast. Sie konnten sich nur durch Sprünge zur Seite retten. Um das Auto zu stoppen, schossen daraufhin sechs Polizist*innen insgesamt 34 Mal auf den Wagen. Bilel G. wurde von sechs Kugeln getroffen, er schwebte in Lebensgefahr und wird wahrscheinlich sein gesamtes Leben querschnittsgelähmt bleiben.

An der polizeilichen Darstellung gibt es jedoch erhebliche Zweifel. Ein Anwohner, der die Situation beobachtete, sagte dem WDR: »Ich verstehe nicht, warum überhaupt geschossen wurde. Der konnte doch nirgends hin, er steckte fest. Die Straße war dicht mit Polizeiautos.« Ein schwerwiegender Vorwurf. Im Moment wird gegen Bilel G. wegen versuchter Tötung ermittelt, gegen die Polizist*innen wegen des Verdachts auf Körperverletzung im Amt.

Wer nun hofft, Aufzeichnungen von Bodycams, also Kameras an den Körpern der Polizist*innen, könnten dabei helfen, Klarheit über die Geschehnisse zu geben, täuscht sich. Alle Kameras waren während des Einsatzes ausgeschaltet. Das ruft Erinnerungen an den Fall Mouhammed hervor. Der 16-Jährige war im August 2022 von Polizist*innen in Dortmund erschossen worden. Auch damals lief keine der Polizeikameras.

Der Innenausschuss des NRW-Landtags beschäftigte sich bereits damit, dass die Kameras in Bad Salzuflen ausgeschaltet waren. Jedoch sind die Erkenntnisse gering. Innenminister Herbert Reul (CDU) betonte, dass es seit April einen Erlass gebe, dass Polizist*innen ihre Bodycams in einem frühen Gefahrenstadium einschalten sollen. Julia Höller, eine Innenpolitikerin der Grünen, bezeichnete die Debatte als »sonderbar«, es sei nicht vorgesehen, dass mit den Bodycams Einsätze dokumentiert werden.

Einen größeren Aufklärungswillen als die Mitglieder des Landtags haben zahlreiche Initiativen aus Ostwestfalen. Am Samstag hatten sie zu einer Demonstration unter dem Motto »Die Polizei lügt!« aufgerufen. Rund 600 Menschen – die Polizei spricht von 450 – sind gekommen. Viele kennen Bilel G. persönlich und sind deswegen besonders emotional. Sie fordern Gerechtigkeit und Aufklärung der Polizeischüsse. Für Herford ist die Demo offenbar ein großes Ereignis. Im Vorfeld gab es in der Lokalpresse zahlreiche Artikel, die schrille Szenarien malten. Ein Grund dafür: In den sozialen Netzwerken gab es einige Aufrufe, man solle sich ein Beispiel an Frankreich nehmen. Dort gab es nach tödlichen Polizeischüssen tagelang schwere Krawalle. Auch vor einem Bündnis zwischen Salafisten und Linken warnte die Lokalzeitung »Neue Westfälische«. Diese Angstmache zeigte Wirkung. Geschäfte in der Herforder Altstadt schlossen früher, ein Schaufenster wurde sogar mit Spanplatten geschützt. Und auch das Polizeiaufgebot orientierte sich offenbar an diesen Horrorszenarien. Neben Bereitschaftspolizist*innen waren auch die spezialisierten Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) aus Bochum, Köln und Wuppertal in Ostwestfalen im Einsatz.

Die Spezialeinheiten bekamen schnell ihren Auftritt. Kurz nach der Auftaktkundgebung flogen einzelne Böller. Die Polizei stellte außerdem fest, dass Demonstrant*innen sich vermummt hatten. Der Protestzug wurde daraufhin aufgehalten, weitere Böller und Plastikflaschen flogen. Es gibt mehrere Gründe, warum in Herford so eine hitzige Stimmung entstand. Dass die Demonstrant*innen die Polizei der Lüge bezichtigen, ist keine Provokation. Erst in der vergangenen Woche war ein Polizist aus dem benachbarten Bielefeld zu einer Geldstrafe verurteilt worden, der einen Rollerfahrer bei einer Verfolgung zu Fall gebracht hatte. Die Polizei stellte den Sachverhalt anders dar, nur das Video eines Anwohners führte zur Verurteilung des Beamten. In Herford selbst erinnert man sich außerdem an einen Fall aus dem Jahr 2014. Auch dort führte ein Video zur Verurteilung eines Prügelpolizisten.

An Videos vom Protestgeschehen am Samstag wird es nicht mangeln. Sowohl Demonstrant*innen als auch Polizist*innen machten reichlich Gebrauch davon. Die Protestierenden dürften vor allem die Festnahmen durch die BFE-Einheiten gefilmt haben, die nach dem Anfangsstopp geschahen. Dabei kam es immer wieder führten zu Schubsereien und zu Aufregung in der Demonstration. Nachdem es immer wieder zu solchen Auseinandersetzungen gekommen war, beendeten die Veranstalter*innen die Demonstration nach nur wenigen hundert Metern. Murat Haydemir aus dem Demobündnis erklärte im Anschluss, die Polizei habe sich »für eine Eskalationsstrategie« entschieden. Das Polizeiaufgebot sei »erdrückend« gewesen, die Polizei habe es unmöglich gemacht, »den Betroffenen von Polizeigewalt eine Stimme« zu geben.

Nach dem Ende der Demonstration versuchten noch einige Jugendliche, ihren festgenommenen Freund*innen Beistand zu leisten. Dabei kam es zu Steinwürfen auf die Polizei, nachdem diese die Protestierenden auseinandergetrieben und in Nebenstraßen gejagt hatte. In der Polizeibilanz des Tages ist von jeweils einem verletzten Polizisten und Demonstranten die Rede.

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