»Tag des Widerstands« in Israel

Tausende protestieren vor der entscheidenden Parlamentssitzung gegen die Justizreform

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 4 Min.
Demonstration gegen die Justizreform am Dienstag in Jerusalem
Demonstration gegen die Justizreform am Dienstag in Jerusalem

Schon am frühen Morgen herrschte in vielen israelischen Städten wieder der Ausnahmezustand: Unter den Augen von Zehntausenden Polizist*innen zogen Hunderttausende auf die Straßen, blockierten Kreuzungen und Autobahnen, um gegen die geplante Justizreform der Regierung zu protestieren.

Die Knesset bereitete sich derweil auf eine Sitzung des Verfassungs- und Rechtsausschusses vor, wie es sie in der Geschichte des Landes noch nie gegeben hat: 27 000 Einwände der Opposition gegen das Gesetzesvorhaben will man bis Montag abgearbeitet haben. Mehr als eintausend Abstimmungen sollen stattfinden. Und auf der anderen Straßenseite, im Obersten Gerichtshof, wurden Mitarbeiter*innen schon aus dem Urlaub zurückgerufen, in Erwartung des Unausweichlichen: der Anfechtung der Sitzung. Denn nahezu jede*r geht davon aus, dass der Ausschussvorsitzende Simcha Rothman, Verfechter der Reform, versuchen wird, Anträge und Einwände ohne Diskussion im Paket abstimmen zu lassen.

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Es könnte einer der letzten Fälle sein, bei welchem die Höchstrichter ein Wort bei dem mitzureden haben, was die Abgeordneten auf der anderen Straßenseite tun. Als das Gebäude, in dem sie residieren, geplant wurde, hatte man es bewusst genau gegenüber des Parlamentsgebäudes platziert, einen kleines Stück höher: um zu signalisieren, dass auch das Handeln von Regierung und Parlamentariern unter Überwachung steht. Nun möchte die rechtsnationalistische Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu mit ihrer recht knappen Parlamentsmehrheit diese Befugnisse abschaffen.

Der Oberste Gerichtshof soll künftig Entscheidungen von gewählten Mandatsträger*innen nicht mehr für unzulässig erklären dürfen. Ein kleiner Teil der geplanten Justizreform. Aber ein sehr gewichtiger: Denn ohne die »Verhältnismäßigkeitsregel« gäbe es niemanden mehr, der selbst extrem übergriffige Entscheidungen der Regierung infrage stellen könnte.

Dazu muss man wissen, dass Regierungen in Israel sehr weitreichende Befugnisse haben: Sie können Krieg führen, gewagte Geheimdienstoperationen anordnen, Menschen ohne Gerichtsurteil für Monate oder Jahre einsperren. Vieles davon ist erforderlich, um die Sicherheit des Staates Israel zu gewährleisten. Diese Befugnisse können aber auch missbraucht werden. Und das treibt die Menschen auf die Straßen.

Hinter verschlossenen Türen wird schon seit Monaten zwischen Opposition und Koalition über Änderungen an der geplanten Reform verhandelt. Denn geplant ist auch, das Verfahren zur Ernennung von Richter*innen zu ändern. Künftig soll die Regierung mehr Mitspracherechte haben dürfen, was unter dem Strich bedeutet, dass sich die Exekutive eine gefügige Justiz zusammenstellen könnte.

Unversöhnlich stehen sich beide Seiten dabei gegenüber: Die Befürworter*innen betonen, dass es doch nicht sein könne, dass die Justiz eine gewählte Regierung ständig überstimme. Die Gegner*innen, die die Mehrheit in der Gesellschaft stellen, sind der Ansicht, dass die Reform der Beginn einer »Diktatur« und überhaupt nur dazu gedacht sei, Regierungschef Netanjahu vor einem Verfahren wegen Korruption zu bewahren.

Nach außen hin verbreitet Netanjahu den Eindruck, eine Einigung stehe kurz bevor, maximal sprachliche Änderungen werde es noch geben. Am Regelungsgehalt werde sich nichts ändern, so sein Versprechen an seine Unterstützer*innen.

Netanjahu steht mittlerweile mit dem Rücken zur Wand: Vor allem der rechtsradikale Koalitionspartner »Religiöser Zionismus« fordert von ihm, an der Reform festzuhalten. Das bedeutet aber auch, dass ihm die liberaleren Wähler*innen weglaufen.

Die Justizreform überschattete auch einen Staatsbesuch von Präsident Jitzchak Herzog in den USA: Herzog von der sozialdemokratischen Arbeitspartei sprach vor dem Kongress und mit Präsident Joe Biden über die Ausweitung der Zusammenarbeit mit arabischen Staaten und mögliche weitere Abkommen.

Doch an diesem Tag, in dieser Zeit, wurde der lange geplante Besuch von so gut wie allen israelischen Medien als Demütigung für Netanjahu gesehen. Denn er selbst wurde seit seiner erneuten Vereidigung im Dezember noch gar nicht ins Weiße Haus eingeladen. Biden erklärte sogar mindestens zwei Mal, dass er das auch nicht tun werde. Vor einigen Wochen sagte er zudem, Israels Regierung habe einige der »extremsten Mitglieder«, die er je gesehen habe.

Netanjahu indes versuchte, das Geschehen auf eigene Art zu deuten: Nach einem Telefonat mit Biden ließ er verbreiten, die Gesprächsatmosphäre sei warm gewesen; die beiden würden sich im Herbst treffen. In der Presseerklärung des Weißen Hauses wird dieses Treffen mit keinem Wort erwähnt.

Vermutet wird, dass Netanjahu damit ein Gespräch am Rande der Uno-Vollversammlung meinte. Kurze Zeit später bestätigte das Weiße Haus dann und legte nach: Die Einladung bedeute nicht, dass man weniger besorgt über die Justizreform sei. Diese Sorge teilt das Weiße Haus mit den Zehntausenden Menschen, die seit Jahresbeginn landesweit immer wieder gegen das Vorhaben auf die Straße gehen. Die Kundgebungen am Dienstag werden nicht die letzten gewesen sein.

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