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Bittere Brunnen im Abendlicht
Von der Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert erzählen Stephan Hermlin und Hertha Gordon-Walcher. Über beide liegen neue Bücher vor.
Ich war nicht besser und nicht schlechter als die Bewegung, der ich angehörte«, lautet ein zentraler Satz aus »Abendlicht«, dem wohl bekanntesten Werk des Schriftstellers Stephan Hermlin (1915–1997). Ein Zitat, das auch dem Buch vorangestellt ist, das Hans-Dieter Schütt dieser Tage über diesen Dichter herausgebracht hat. Aus gutem Grund will Schütt nicht von einer Biografie reden: »Gelesen habe ich, was Stephan Hermlin geschrieben und gesagt hat, es ist mir das Entscheidende, ich spüre Bezüge, sie ziehen mich an.« – Schade, eine seriöse Biografie hätte den Diskurs zur DDR-Geschichte wie überhaupt zur Literatur im Arbeiter- und Bauern-Staat ungemein bereichern können. Obgleich er kaum noch gelesen wird, so hat Hermlin doch bis heute Spuren im historischen Gedächtnis vieler Leute hinterlassen, die in der DDR Verantwortung trugen. Sie meinen in ihm die »ehrliche« DDR zu sehen, den ehrlichen Kommunisten. Weil das Leben kompliziert und unberechenbar ist, ja sogar tödlich endet, brauchen Menschen seit jeher Erzählungen, die ihnen Erklärung bieten und Trost. Für etliche DDR-Bürger war »Abendlicht« eine solche Erzählung.
Die Deutsche Demokratische Republik wie auch Stephan Hermlin bezogen ihre Autorität und Legitimation zu einem großen Teil aus der Geschichte, aus dem antifaschistischen Widerstandskampf während der Nazi-Zeit. Insofern war dieser Dichter nicht besser und nicht schlechter als der Staat, dem er angehörte – den er kritisierte und verteidigte. Immerhin war es Hermlin, der im Herbst 1976 die Biermann-Resolution geschrieben und den Protest gegen die Ausbürgerung des Liedermachers organisiert hat. Nie wieder waren Künstler in dem kleinen Land politisch derart unzuverlässig und der Staatsmacht so bedrohlich. Ein Hermlin-Biograf hätte auf Quellenbasis der Frage nachgehen müssen, wie dieser Mann es geschafft hat, gleichzeitig Motor und Sand im Getriebe zu sein.
Hermlins literarische Fiktion
Als Rudolf Leder 1915 in Chemnitz geboren, galt Stephan Hermlin im Literaturbetrieb beider deutscher Staaten als sakrosankt. In der »Literatur der DDR«, dem in Ostberlin 1976 verlegten elften Band der »Geschichte der Deutschen Literatur« lesen wir über ihn, dass er sich als Sechzehnjähriger der Kommunistischen Jugendbewegung angeschlossen hatte und nach 1933 von den Faschisten verfolgt wurde. 1936 emigrierte er aus Deutschland über Ägypten, Palästina, England und Spanien nach Frankreich. Schließlich flüchtete er 1941 in die Schweiz. Er habe »Angst und Einsamkeit« erlebt, doch in dieser Zeit auch andere Erfahrungen gemacht: »In der illegalen Arbeit gegen den deutschen Faschismus, bei der Unterstützung des spanischen Freiheitskrieges und in französischen Lagern hatte er die Kraft internationaler Solidarität kennengelernt, war er selbst zu einem bewussten Kämpfer geworden.« Wir können davon ausgehen, dass dieser Eintrag nicht ohne Hermlins Wissen und schon gar nicht gegen seinen Willen gedruckt wurde. Ein Biograf hätte zu den hier aufgezählten Lebensstationen nach Belegen suchen müssen. In Hermlins Prosa zu schmökern, reicht da nicht aus.
Sein Vater zum Beispiel ist eben nicht im KZ Sachenhausen umgekommen, wie er in »Abendlicht« schreibt. David Leder wurde von den Nazis nach der »Reichspogromnacht« ins Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert, kam aber nach relativ kurzer Zeit frei und emigrierte nach England, wo er 1947 an Leberkrebs starb. Noch im September 1984 ließ sich Stephan Hermlin vor einem Millionenpublikum von Günter Gaus ins Gesicht sagen: »Ihr Vater, Herr Hermlin, war ein sehr wohlhabender, kunstsinniger, gebildeter, großbürgerlicher Unternehmer. Die Nationalsozialisten haben ihn als Juden im Konzentrationslager ermordet.«
Der Literaturkritiker Karl Corino kommentiert diese Szene mit den Worten: »Jeder moralisch integre Mensch hätte die Gelegenheit genutzt, diese Geschichtsklitterung wenigstens im entscheidenden Punkt ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen, etwa nach dem Motto: ›Herr Gaus, ich muss hier endlich etwas richtigstellen. Mein Vater ist zwar vom 9. November bis 20. Dezember 1938, nach der Kristallnacht, im KZ Sachsenhausen eingesperrt und drangsaliert worden, aber dann hat man ihn mit der Auflage nach Hause geschickt, das Dritte Reich möglichst schnell zu verlassen. Er hat mich nach seiner Ausreise im Juli 1939 in Paris besucht, bis er mit meiner Mutter nach England einreisen konnte. Er hat dort schwer gearbeitet, mich bis zum Kriegsende materiell unterstützt und ist am 1. März 1947 an einer schrecklichen Krankheit gestorben, an Krebs.‹«
Der Schriftsteller hat also eine literarische Fiktion geschaffen, worin liegt das Problem? Gerade, weil Millionen von Juden in der NS-Zeit gepeinigt und getötet wurden, so Corino, sei es eine Ruchlosigkeit, einen Überlebenden des KZs jenen Toten zuzugesellen und sich mit dem Leid anderer Vorteile zu verschaffen. An diesem Punkt würde sich die Diskussion lohnen, wie viel ein Schriftsteller in seinem Werk erfinden darf. Auf diesen und ähnliche Vorwürfe geht Hans-Dieter Schütt aber nicht ein. Er verteidigt den Dichter mit dessen Werk.
Ein angedichtetes Schicksal
In diesem Werk verknüpft der Erzähler Hermlin häufig historische Ereignisse mit der eigenen Biografie. Und sobald dem Ich dazu nichts mehr einfällt, wird die Erinnerung abgebrochen. Ja, so ist das eben mit dem Gedächtnis. Neuer Absatz, neuer Ort in einer anderen Zeit mit anderen Leuten. Hermlins »Abendlicht« hat außer der Weltgeschichte kaum einen Handlungsbogen und schon gar kein gewachsenes Beziehungsgeflecht der Protagonisten. Außer dem Glauben an die Partei kennt Hermlin keine Metaebene. So ist dieser schmale Band auch kein Roman. Der Leipziger Reclam-Verlag, der die »Bilanz seiner Jugend« 1979 verlegte, unterließ bewusst jegliche Zuordnung. Wahrheit und Dichtung, ist auf dem Klappentext zu lesen, fügten sich zusammen »zu einem Text von großer Intensität« – der aber fiktional an vielen Stellen schlicht keinen Sinn ergibt.
»Abendlicht« ist voller Erinnerungsfetzen, die für den Fortgang der Handlung keinerlei Rolle spielen. Aus dem Nichts heraus heißt es plötzlich: »als ich auf der Straße nach Corbera den Verwundeten traf, dem der Unterkiefer fehlte«. Weder die Geschichte des Verwundeten noch der Spanische Bürgerkrieg werden weitererzählt. Der Halbsatz dient nicht der Story, sondern der Selbsterhöhung des Autors. Er wäre nur sinnvoll, wenn wir denken können, dass nicht nur der Erzähler, sondern Hermlin persönlich gegen Franco gekämpft hat, wie viele andere Schriftsteller auch. Vielleicht wäre »Zwielicht« der bessere Buchtitel gewesen.
Karl Corino verwies schon 1996 auf eine Sonderausgabe der Zeitschrift »Aufbau«, erschienen unmittelbar nach dem Tod Stalins, über den Hermlin dort schreibt, sein Name sei »eine Fahne« gewesen, »die sichtbar und unsichtbar im Winde der Straßen und Sehnsüchte flog«. Für den späteren PEN-Vizepräsidenten wirklich beschämend aber ist eine andere Stelle im Text: »Ich entsinne mich schwerster Stunden im Konzentrationslager. Wir, die wir nichts besaßen, besaßen doch viel: unsere Partei und unsere Hoffnung. Niemand war reicher als wir. Ich hatte in meiner Pritsche ein winziges Bild von Stalin versteckt, im Ausmaß zwei mal drei Zentimeter. Am 1. Mai und am 7. November hatten wir das Bild zwischen uns gestellt und feierten flüsternd die Tage, die allen Arbeitern teuer sind«. Hermlin ist nie in einem Konzentrationslager gewesen. Mit Literatur hat das wenig zu tun. Warum erfinden Menschen solche Geschichten?
Zufällig das Manifest gelesen
Als rassisch Verfolgter war Hermlin vor den Nazis auf der Flucht. Aber war er auch im Widerstand? Der Wagenbach-Verlag, der Hermlin in Westdeutschland verlegte, behauptet bis heute auf seiner Internetseite, dass er sich der Résistance in Frankreich angeschlossen habe. Noch im September 1992 meinte Hermlin sich zu erinnern; im Interview mit der »Wochenpost« erklärte er: »De Gaulle war mein General, mein Oberbefehlshaber in der Résistance.« – Vielleicht gibt es wenigstens dafür irgendwelche Belege, genug Arbeit also für einen Biografen. Nicht aber für Schütt, der es grundsätzlich unterlässt, Hermlin in den Kontext seiner Zeit zu stellen. In der DDR hat ja bei weitem nicht jeder Schriftsteller von der SED in Niederschönhausen ein Haus gestellt (geschenkt?) bekommen. Vielleicht muss man Hermlin beim Wort nehmen: War er denn tatsächlich nicht besser und nicht schlechter als die Bewegung, der er angehörte? Inwieweit stimmt das Bild, das er von der kommunistischen Bewegung zeichnet, mit der damaligen Realität überein?
Mit dreizehn Jahren, lesen wir in »Abendlicht«, habe er zufällig das »Kommunistische Manifest« gelesen: »Mich bestach darin der große poetische Stil«. Mit sechzehn wird Hermlin Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes. Er habe damals nicht gewusst, was er mit seinem Eintritt alles unterschrieb, die Verpflichtung mit den Unterdrückten an einer Front zu kämpfen. »Oft habe ich mich später fragen müssen, aus welchem Grunde ich an dieser Unterschrift (…) festhielt, als ich um mich so viele sah, die ihre Unterschrift widerrufen oder einfach vergessen hatten.« Hermlin nennt keine Namen. Und ganz bestimmt meint er nicht die Genossen Hugo Eberlein, Leo Flieg, Heinz Neumann, Hermann Remmele, Hermann Schubert, Fritz Schulte oder Heinrich Süßkind. Oder Hans Kippenberger, den Leiter des Militärapparates der KPD oder Willi Leow, den Chef des Rotfrontkämpferbundes. Sie alle haben ihre Unterschrift nicht widerrufen. Als Kommunisten waren sie ohnehin »Tote auf Urlaub« (Eugen Leviné), für Tausende jedoch war Stalins Sowjetunion das letzte Reiseziel. Aber davon schweigt Hermlin.
Und offensichtlich kannte er nicht das Ehepaar Hertha und Jacob Walcher, die als »Versöhnler« gleich zweimal aus der Partei ausgeschlossen wurden (und ihre Unterschrift trotzdem nicht »vergessen« hatten). Beide waren bereits Mitglied im Spartakusbund. Jacob Walcher leitete gemeinsam mit Wilhelm Pieck den Gründungsparteitag der KPD; von 1919 bis 1924 gehörte er der Zentrale, dem späteren Zentralkomitee, an und war dort verantwortlich für Gewerkschaftspolitik. Wo Hermlin sein Leben als Kommunist im geraden Weg schildert, im Vertrauen auf die Partei hin zum »Abendlicht«, ist das Leben der Walchers von Brüchen, Irrwegen und bitteren Enttäuschungen geprägt. Aber auch von großer Hoffnung.
Eine Chronik der Bewegung
Während es zu Jacob Walcher bereits eine Biografie gibt, hat sich für das Leben seiner Frau bislang kein Historiker interessiert. Die Schriftstellerin Regina Scheer hat über die Sozialistin nun ein Buch geschrieben und wurde für diese Arbeit unlängst mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Scheer macht dort weiter, wo Hermlin stehenbleibt und mit ihm sein Nichtbiograf Schütt.
In der Novemberrevolution kämpften Frauen an vorderster Stelle, so zum Beispiel bei den Streiks der Munitionsarbeiterinnen 1918. Doch schon in den gewählten Gremien, den Arbeiterräten, waren sie kaum vertreten. Die Schweizer Historikerin Brigitte Studer (»Reisende der Weltrevolution«) spricht in diesem Zusammenhang von der »Verdrängung in die Unsichtbarkeit«. Und auch die Erinnerung an die kommunistische Bewegung war lange Zeit eine dezidiert männliche, die zwar Platz ließ für die Ikonen Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, während aber alle anderen Kommunistinnen dem Vergessen anheimfielen. Gegen dieses Vergessen der Frauen schreibt Regina Scheer an. Mit »Bittere Brunnen« zeichnet die Autorin nicht nur das außergewöhnliche wie exemplarische Leben von Hertha Gordon-Walcher nach, so die Jury zum Preis der Leipziger Buchmesse 2023. Gleichzeitig erzähle sie auch eine Chronik der sozialistischen und feministischen Bewegungen im 20. Jahrhundert. »Dieses erzählende Sachbuch steht für große Offenheit im Umgang mit Brüchen, Ungereimtheiten und Leerstellen unseres Wissens um Lebensläufe – und ist eine genaue Dokumentation politischer Zusammenhänge, deren Spuren die Gegenwart prägen.«
Anders als Hermlin, dessen aus Galizien stammende Mutter in »Abendlicht« als Engländerin zu Wort kommt, hat Hertha Gordon-Walcher (1894–1990) ihr Jüdischsein nie verleugnet. Eine Stelle aus dem 2. Buch der Tora wird sie ein Leben lang begleiten: Auf der Flucht aus der ägyptischen Gefangenschaft irrt das Volk Israel durch die Wüste Schur. Ein schrecklicher Durst quält die Menschen, als sie den Brunnen von Mara erreichen. Doch das Wasser schmeckt bitter, ist ungenießbar. In ihrer Verzweiflung klagen die Juden gegen Mose, der sein Volk gerade erst durchs Rote Meer geführt hatte, als endlich der Allerhöchste seinen Propheten anweist, ein Stück trockenes Holz in das Wasser zu werfen, das dadurch seine Bitterkeit verliert.
Die Metapher vom schwer genießbaren Wasser auf dem Weg ins gelobte Land übernahm Regina Scheer für den Titel ihres Buches »Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution«. Eine Biografie, die ihresgleichen sucht, über eine unscheinbare Genossin, die im Laufe ihres Lebens mit so gut wie allen wichtigen Personen in der Linken zu tun hatte. Als Vertraute von Clara Zetkin kannte sie Rosa Luxemburg, Wilhelm Pieck, Karl Radek und nicht zu vergessen, später dann bei der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), den jungen Willy Brandt und eines Tages sogar Bertolt Brecht.
Auf die Frage, ob sie Stalin gekannt habe, soll Hertha Walcher gelacht und eine unbestimmte Handbewegung gemacht haben. »Ja, ich bin ihm begegnet… mit der Clara zusammen, sie war bei ihm zum Essen eingeladen. Sein Sohn Jakow saß mit am Tisch, fünfzehn, sechzehn Jahre alt. Stalin sagte etwas zu ihm, der Sohn antwortete, wir haben die Antwort nicht verstanden, aber Stalin beugte sich über den Tisch und ohrfeigte den Jungen. Der stand auf und ging wortlos, auch seine Stiefmutter, nur sechs Jahre älter als Jakow, sagte kein Wort. Uns war der Appetit vergangen.«
Desillusionierte Hoffnung
Sind die Bücher von Hermlin und Scheer miteinander vergleichbar? Können wir »Bittere Brunnen« im »Abendlicht« lesen und umgekehrt? Ein Prosaband, der bei seinem Erscheinen 1979 autobiografisch gelesen wurde und eine nichtfiktionale Biografie, in klarer Sprache gehalten, aber nicht ohne Poesie, wie schon der Titel zeigt. Warum nicht? Beide Autoren erheben einen Anspruch auf Wahrhaftigkeit. Beide erzählen vom Leben und Glauben deutscher Kommunisten im 20. Jahrhundert und könnten doch verschiedener nicht sein. Verglichen mit Stephan Hermlin ist Regina Scheer eine Schriftstellerin, die weniger durch Vorträge auf Kongressen brilliert, sondern mit »Machandel« wenigstens einen Roman veröffentlicht hat, der 2015 von der Kritik gefeiert wurde. In »Bittere Brunnen« eignet sie sich nicht das Leben anderer Menschen an, sondern rettet es vor dem Vergessen, ohne aber jemals ihre Distanz aufzugeben.
Die 1950 in Ostberlin geborene Autorin war in den 1980er Jahren Redakteurin der Literaturzeitschrift »Temperamente«. In diese Zeit fallen auch viele ihrer Besuche bei »Tante Hertha«, einer Freundin ihrer Familie. Aus den Gesprächen und zahlreichen Archivbesuchen ist, wie »Die Zeit« schreibt, ein historischer Pageturner entstanden, der von der gleichen Utopie und Bewegung handelt wie »Abendlicht«. Doch während Hermlin versucht, sein Publikum mit der Geschichte des Kommunismus zu versöhnen und den Frauen dabei allenfalls eine Statistenrolle zukommen lässt, erzählt Regina Scheer aus weiblicher Sicht, wie aus einer großen Hoffnung eine Illusion wurde. Ein Leben zwischen den Stühlen oder, wie man damals scherzte, »zwischen den Minen«.
Das Ehepaar Walcher lebte weniger von als für die KPD, die aber spätestens ab Mitte der 1920er Jahre mehr und mehr zur stalinistischen Apparatepartei verkam. Eine Partei, die sich bis heute nie wirklich ehrlich gemacht hat, denn »Fragen an die Geschichte zu stellen, über Fehler zu reden, hätte bedeutet, nach den Fehlern der Gegenwart zu fragen. Und das wurde vermieden wie eh und je«. Auch heute noch ist die Sozialdemokratie für viele Genossen der Hauptgegner; der Glaube an Moskau scheint bei manchen ungebrochen, egal welcher Staat auf Kremlbefehl gerade überfallen wird. Im Jahr 1939 waren es Finnland und Polen.
Zu diesem Zeitpunkt waren die Walchers schon seit über zehn Jahren aus der KPD ausgeschlossen; Jakob Walcher hatte sich im Karl-Liebknecht-Haus wiederholt gegen die Gründung KPD-naher Gewerkschaften ausgesprochen, denn die Gewerkschaftsbewegung sollte auf keinen Fall gespalten werden. Hertha und Jakob Walcher treten der KPD-Opposition bei, einer Gruppe um den ehemaligen KPD-Vorsitzenden Heinrich Brandler, mit guten Analysen, aber wenig Strahlkraft innerhalb der Linken. Die Kommunistische Partei-Opposition (KPO) wird nie mehr als 4000 Mitglieder haben. Die 1931 gegründete Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands – eine Art Sammelbecken für ausgeschlossene Sozialdemokraten und Kommunisten – zählt dann immerhin schon 25 000 Genossen in ihren Reihen, unter ihnen auch das Ehepaar Walcher und ein junger Genosse, Herbert Frahm, der eines Tages im Osloer Exil den »Kampfnahmen« Willy Brandt annehmen wird. Seiner damaligen Partei wird – wie wir heute wissen – kein Erfolg beschieden sein, als Kristallisationspunkt einer antifaschistischen Einheitsfront.
In Regina Scheers Buch nimmt die Geschichte der SAP einen großen Raum ein, zu Recht. Wir erfahren, dass es schon in der Weimarer Republik eine unorthodoxe Linke gegeben hat, die fernab der staatstragenden Sozialdemokratie nach Wegen gesucht hat, jenseits der stalintreuen KPD. Scheer erzählt von Menschen, die uns heute als naiv erscheinen mögen, die damals als Suchende aber die richtigen Fragen gestellt haben. Demokratie und Sozialismus gehören zusammen.
Nach Hitlers Machtergreifung sind Hertha und Jakob Walcher klug genug, in den Westen ins Exil zu gehen, nach Frankreich, später in die USA. Nach dem Krieg kehren sie nach Deutschland zurück, im Unterschied zu Willy Brandt aber in die sowjetisch besetzte Zone. »Noch war die DDR nicht gegründet, aber Willy Brandt erkannte ihre Geburtsfehler, die Verletzung von Demokratie, Freiheit und Menschenwürde«. Geburtsfehler, von denen die Walchers meinten, sie würden sich mit der Zeit verwachsen – bittere Brunnen, aus denen sie trinken müssen, auf dem Weg ins gelobte Land. »Die DDR war nicht die Gesellschaft, die sie sich vorgestellt hatten, aber sie war Realität, eine bessere hatten sie nicht.« Eines Tages werden die Eheleute Walcher von der SED ihre Parteiausweise wieder ausgehändigt bekommen. »Aber dazwischen fehlte etwas, das Wichtigste, die Auseinandersetzung.«
Die echten Geschichten
Mit dieser Biografie hat Regina Scheer auch eine Geschichte der linkssozialistischen Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung geschrieben. Im Unterschied zu Hermlin nimmt sie Geschichte als Ganzes an. Wir lesen von den Schauprozessen in der Sowjetunion, von den Säuberungen in den Parteien der Komintern und vom Freundschaftsvertrag Hitlerdeutschlands mit der Sowjetunion. In seinem letzten Artikel ruft Willi Münzenberg: »Der Verräter, Stalin, bist du!« Hertha Walcher will nicht glauben, dass Münzenberg sich selbst das Leben genommen hat. Und auch sie wird oft am Abgrund stehen. Hertha und Jakob aber werden mit dem Leben davonkommen. Ein Glück, das viele ihrer Weggefährten nicht hatten. Ihre Geschichten müssen erzählt werden, nicht die Märtyrermärchen eines Stephan Hermlin.
Regina Scheer hat sich mit »Tante Hertha« sehr oft über Helene Radó unterhalten, eine deutsch-ungarische Journalistin und Übersetzerin, die auch unter dem Pseudonym Maria Arnold schrieb und in ähnlicher Weise historische Episoden erfunden hatte. Beispielsweise dass sie beim Gründungsparteitag der KPD den Genossen eine Geheimnachricht von Lenin überbracht hat (als Siebzehnjährige!), was gelogen war. Als die KPD gegründet wurde, saß Hertha mit Lene im Zug, irgendwo in Sowjetrussland. DDR-Historiker haben diese Flunkereien ungeprüft übernommen, so die Autorin. »Dabei war die reale Biografie von Helene Jansen-Radó so voller Dramatik, dass sie keiner Aufwertung bedurft hätte.« Ähnlich verhält es sich bei Stephan Hermlin. Karl Corino spricht von einem »fast einzigartigen Fall literarischer Selbstbeschädigung«, weil er vermutlich viele bewegende Episoden seines Lebens nie erzählen konnte – Geschichten, die er aus wechselnden Gründen seiner Selbstzensur geopfert habe.
Hans-Dieter Schütt: Stephan Hermlin: Entlang
eines Dichters. Quintus, 296 S., geb., 25 €.
Regina Scheer: Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution.
Penguin, 704 S., geb., 30 €.
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