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USA: Wahlkampf aus der Zelle

Wenn auch Debs und Trump Welten trennen, eine Parallele könnte es geben

  • Ronald Friedmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Donald Trump ist wegen einer Reihe schwerer Vergehen angeklagt, im Falle einer Verurteilung droht ihm eine langjährige Haftstrafe. Trotzdem führt er das Bewerberfeld der republikanischen Präsidentschaftskandidaten an. Das wirft die Frage auf, ob er auch aus der Zelle eines Bundesgefängnisses heraus Wahlkampf führen könnte. Es gibt ein historisches Vorbild aus dem Jahre 1920, den Kandidaten der Sozialistischen Partei, Eugene V. Debs.

Im April 1917 erklärten die USA dem kaiserlichen Deutschland den Krieg und entsandten umgehend kampfstarke Truppen auf den europäischen Kriegsschauplatz. Nur wenige Wochen später verabschiedete der Kongress das sogenannte Spionagegesetz, das sich erst in zweiter Linie gegen ausländische Bestrebungen richtete, die Geheimnisse der US-Regierung zu enthüllen. Das eigentliche Ziel des mehrfach geänderten, aber in vielen Aspekten bis heute gültigen Gesetzes war es, jede Kritik am militärischen Engagement der USA in Europa zu kriminalisieren und unter Strafe zu stellen. Innerhalb kürzester Zeit füllten sich die Bundesgefängnisse mit Menschen, die lediglich von ihrem verfassungsmäßigen Recht auf freie Rede Gebrauch gemacht hatten.

Am 16. Juni 1918 ergriff Eugene V. Debs auf dem Parteitag der Sozialistischen Partei in Canton im Bundesstaat Ohio das Wort und erklärte in einer dramatischen und mit großem Jubel aufgenommenen Rede: »Sie haben Euch stets beigebracht, Euch gelehrt, daran zu glauben, es sei Eure patriotische Pflicht, in den Krieg zu ziehen und Euch auf ihren Befehl hin abschlachten zu lassen. Aber in der gesamten Menschheitsgeschichte wart Ihr, das Volk, stets ohne Stimme, wenn es darum ging, jemandem den Krieg zu erklären.« Debs war sich bewusst, dass er mit dieser Rede gegen das Spionagegesetz verstieß und dass ihm nun eine lange Haftstrafe drohte. Er sah es jedoch als seine Lebensaufgabe, sich immer und überall mit Wort und Tat für seine Mitmenschen zu engagieren. »Ja, ich bin der Hüter meines Bruders«, schrieb er über sich selbst. »Ich bin ihm gegenüber moralisch verpflichtet, und zwar nicht aus rührseliger Sentimentalität, sondern aus der höheren Pflicht, die ich mir selbst schulde.«

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Zwei Wochen nach seiner Rede wurde Debs verhaftet und angeklagt, am 12. September 1918 schuldig gesprochen. Seine Verteidigung hatte auf eigene Zeugen verzichtet und beantragt, dass sich der Angeklagte selbst mit einer Stellungnahme an das Gericht wenden dürfe: »Euer Ehren, ich bitte nicht um Gnade, ich plädiere nicht auf Straffreiheit. Mir ist klar, dass sich das Recht letztlich durchsetzen muss. Nie habe ich den großen Kampf zwischen den Mächten der Habgier auf der einen Seite und den aufstrebenden Heerscharen der Freiheit auf der anderen Seite besser verstanden als jetzt. Ich sehe die Morgendämmerung eines besseren Tages für die Menschheit. Die Menschen sind dabei zu erwachen. Zu gegebener Zeit werden sie zu ihrem Recht kommen.«

Debs wurde für zehn Verstöße gegen das Spionagegesetz zu zehn Jahren Haft verurteilt. Nachdem das Oberste Gericht der USA das Urteil bestätigt hatte, obwohl der Krieg in Europa längst beendet war, musste er am 13. April 1919 seine Strafe antreten. Das konnte seiner Popularität keinen Abbruch tun, im Gegenteil. Er war und blieb einer der bekanntesten und einflussreichsten Führer der US-amerikanischen Linken.

Eugene V. Debs ist am 5. November 1855 in Terre Haute im Bundesstaats Indiana als Sohn von Einwanderern aus dem Elsass geboren worden. Mit 14 Jahren begann er für die Eisenbahn zu arbeiten, zuletzt als Heizer auf einer Lokomotive. Im Februar 1875 wurde er Mitglied der »Bruderschaft der Lokomotivheizer«, mit der er auch nach seiner Entlassung im Sommer 1875 über viele Jahre hinweg als Funktionär und Redakteur der Verbandszeitung verbunden blieb. Debs vertrat ursprünglich die Ansicht, dass »Arbeit und Kapital Freunde« sind. Er sprach sich deshalb gegen Streiks und andere Formen des Arbeitskampfes aus. Doch sehr bald kam er zu der Einsicht, dass soziale Errungenschaften erkämpft werden müssen. Er erkannte, dass die gewerkschaftliche Organisation im Interesse der Kampfkraft nicht nach Berufsgruppen, sondern nach Wirtschaftszweigen erfolgen sollte. 1893 gehörte er daher zu den Mitbegründern einer der ersten Industriegewerkschaften in den USA, der American Railway Union (ARU), der Amerikanischen Eisenbahngewerkschaft.

Im Mai 1894 traten die Beschäftigten der Pullman Palace Car Company, des größten Waggonbauers der USA, in einen Streik, mit dem sie gegen Massenentlassungen und Lohnkürzungen protestierten. Die Mitglieder der ARU solidarisierten sich umgehend mit den Streikenden, obwohl der Waggonbau nur mittelbar mit dem Eisenbahnwesen zu tun hatte. Sie boykottierten sämtliche von Pullman gebauten Waggons, so dass beispielsweise keine Postsendungen mehr transportiert wurden. Das nahm die US-Regierung zum Anlass, um mit Truppen gewaltsam gegen die Streikenden vorzugehen. Etwa 30 Menschen verloren bei den Zusammenstößen ihr Leben. Am 2. August 1894 musste der Streik abgebrochen werden. Debs, der Vorsitzende der ARU, wurde angeklagt und von einem Bundesgericht als »Verschwörer« zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt.

Im Gefängnis, berichtete Debs später, begann er Karl Marx zu lesen und sich für die Idee des Sozialismus zu interessieren. Folgerichtig gehörte er 1897 zu den Mitbegründern der Sozialdemokratischen Partei der USA, aus der 1901 die Sozialistische Partei entstand. Ungeachtet seiner wenig erfreulichen Erfahrungen in der Politik – er war vier Jahre kommunaler Wahlbeamter in seiner Heimatstadt gewesen, dann hatte er eine Wahlperiode als Abgeordneter der Demokratischen Partei im Parlament von Indiana gewirkt – entschloss er sich im Sommer 1900, eine Nominierung der Sozialdemokratischen Partei für das Amt des US-Präsidenten zu akzeptieren. Bei seiner ersten Kandidatur erhielt Debs lediglich 87 945 Stimmen, das entsprach 0,6 Prozent.

Doch Debs ließ sich nicht entmutigen – noch vier weitere Male kandidierte er für das höchste Staatsamt der USA. 1912 konnte er seine Stimmenzahl mehr als verdoppeln: 901 551 entsprachen sechs Prozent. Das war das beste Ergebnis, das ein Kandidat der Sozialistischen Partei der USA jemals bei allgemeinen Wahlen erreichte. Im Bundesstaat Florida kam Debs sogar auf den zweiten Platz aller Kandidaten und konnte solche Bewerber wie den amtierenden Präsidenten William Howard Taft und den früheren Präsidenten Theodore Roosevelt hinter sich lassen. Nur der spätere Präsident Woodrow Wilson erhielt im »Sunshine State« mehr Stimmen als er.

Im Gefängnis konnte Debs den Kontakt zu seinen Freunden und Genossen in der Sozialistischen Partei aufrechterhalten, jedoch nicht verhindern, dass in der Sozialistischen Partei, insbesondere unter dem Eindruck der russischen Oktoberrevolution, neue Strömungen und Gruppierungen entstanden, die sich schließlich als eigenständige Parteien etablierten. Als sich Debs im Frühjahr 1920 entschloss, aus dem Gefängnis heraus für das Amt des US-Präsidenten zu kandidieren, hoffte er vor allem, die auseinanderstrebenden Kräfte im Umfeld der Sozialistischen Partei durch ein gemeinsames Ziel dauerhaft wieder zusammenzuführen. Die Hoffnung trog. Die Kräfte, die im Sommer 1919 die Kommunistische Partei Amerikas und die Kommunistische Arbeiterpartei – Vorläuferin der heutigen Communist Party USA – gegründet hatten, fanden nicht wieder in die Sozialistische Partei zurück.

Den eigentlichen Wahlkampf im Herbst 1920 führte Debs’ »running mate« (Mitkandidat), der Vizepräsidentschaftskandidat der Sozialistischen Partei, Seymor Stedman. Debs selbst durfte während des Wahlkampfes lediglich einmal in der Woche eine Botschaft von 50 Worten versenden, die von der Gefängnisverwaltung vorab geprüft wurde. Diese Botschaften wurden umgehend als Flugblätter verbreitet. Sie waren ein wesentliches Element in einem Wahlkampf, der unter großem Geldmangel litt. Trotzdem erhielt Debs am Wahltag 913 664 Stimmen. Inzwischen hatten auch Frauen das Wahlrecht erhalten, sodass auf Debs 3,4 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen.

Woodrow Wilson, der scheidende Präsident, verweigerte Debs im Januar 1921 die Begnadigung. Und auch der neue Präsident, Warren G. Harding, ließ sich fast ein Jahr Zeit, bevor er am 23. Dezember 1921 dessen Freilassung. Debs verließ das Gefängnis mit schwer angegriffener Gesundheit. Er fand nicht mehr zu alter Kraft und Energie zurück und verstarb am 20. Oktober 1926, wenige Tage vor seinem 71. Geburtstag.

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