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- Brasiliens Hightech-Mücken. Teil 1
In Brasilien mit Bakterien gegen Dengue
Milliarden von künstlich infizierten Mücken sollen Krankheitsüberträger verdrängen
Brasilien im Dengue-Fieber. Das größte Land Lateinamerikas bekommt die Ausbreitung seines Hauptüberträgers, der Ägyptischen Tigermücke (Aedes aegypti) in den Städten nicht in den Griff. Im vergangenen Jahr starben in Brasilien 1016 Menschen an dem durch die Stechmücke übertragenen Arbovirus. Rund 400 Prozent mehr als 2021. Ein trauriger Rekord, der den bisherigen Höchstwert von 986 Todesfällen im Jahr 2015 übertrifft. Die WHO beziffert die Dengue-Todesfälle in Brasilien im ersten Halbjahr 2023 auf 769, die der bestätigten Infektionen auf über eine Million. Eine deutliche Zunahme gab es auch bei den ebenfalls durch Aedes aegypti übertragenen Chikungunya und Zika, die gleichermaßen zu den Arboviren zählen – was bedeutet, dass sie von blutsaugenden Gliederfüßern wie Mücken, Fliegen oder Zecken übertragen werden.
Statt die Ausbreitung der in Brasilien nicht heimischen, sondern aus Afrika in die Städte eingeschleppten Tigermücke durch konsequente Beseitigung der Brutstätten – wie Pfützen in löchrigen Straßen, verfallenen Häusern, auf offenen Abfalldeponien oder schlicht im Müll an den Straßenrändern – zu verhindern, setzen die brasilianischen Behörden seit 2011 auf Freilandversuche mit neuen Risikotechnologien. Nun sollen diese in großem Stil zum Einsatz kommen.
Massenproduktion von Labormücken
Vergangenen März beschloss die Stiftung Oswaldo Cruz (Fiocruz) zusammen mit Brasiliens Gesundheitsministerium und dem von der Bill & Melinda Gates Stiftung mitfinanzierten World Mosquito Program (WMP) den Bau einer »Biofabrik« zur Massenproduktion von Ägyptischen Tigermücken, die künstlich mit einem Stamm des Bakteriums Wolbachia infiziert wurden. Ab 2024 soll die rund 20 Millionen Euro teure Fabrik pro Woche 100 Millionen dieser »Wolbitos« genannten Labormücken produzieren, um sie großflächig in Brasilien freizulassen – rund fünf Milliarden Stechmücken pro Jahr. Mit weiteren etwa 16 Millionen Euro sollen die bestehenden Mückenproduktionskapazitäten ausgeweitet werden, um so rasch wie möglich mit der Ausbreitung der Wolbitos in von Dengue besonders betroffenen Orten zu beginnen.
»Es wird die größte Anlage der Welt sein, um mit Wolbachia infizierte Mücken zu produzieren«, schwärmte der australische Forscher und WMP-Direktor Scott O’Neill, dessen Lebenswerk in Erfüllung zu gehen scheint, während der Projektpräsentation in Brasilia. Das Land könnte damit ein Modell für die Ausweitung der Wolbachia-Methode auf alle anderen 129 von Denguefieber betroffenen Länder der Welt werden.
O’Neill forscht bereits seit mehr als zwanzig Jahren an der Idee, mit Wolbachia die Ausbreitung von Dengue zu bekämpfen. Das 1924 von dem US-amerikanischen Entomologen Marshall Hertig und dem Pathologen Simeon Burt Wolbach entdeckte intrazelluläre Bakterium kommt natürlicherweise in etwa 40 Prozent der Arthropodenarten (Gliederfüßer) und geschätzt in mehr als 60 Prozent der bekannten Insektenarten vor. Dazu gehören auch die mit dem Menschen in Wechselwirkung stehenden Blutsauger wie Bettwanzen und Stechmücken. Von den mehr als 3500 bis heute beschriebenen stechenden Mückenarten untersuchten die Forscher bisher 217 auf das Vorhandensein von Wolbachia-Stämmen und wiesen sie in 66 Arten nach. So kommen die Bakterien zwar auch in der Dengue verbreitenden Asiatischen Tigermücke (Aedes albopictus), nicht aber in Aedes aegypti vor.
Die unterschiedlichen endosymbiotischen, das heißt innerhalb des Wirtsorganismus lebenden, Wolbachia-Stämme, die in der Regel mütterlicherseits über die Eier auf die nächste Generation übertragen werden, können ihre Wirte auf verschiedenste Art und Weise manipulieren. So können sie das Fortpflanzungssystem der infizierten Insekten verändern oder die Reproduktion und Verbreitung von bestimmten Virenarten beeinträchtigen. Und genau dies wollte sich O’Neill zunutze machen.
Gemeinsam mit dem brasilianischen Fiocruz-Wissenschaftler Luciano Moreira konnte er an der Universität von Queensland in Australien 2011 nachweisen, dass ein in Aedes aegypti eingebrachter Wolbachia-Stamm die Vermehrung von Arboviren wie Dengue in der Mücke blockieren und damit auch deren Übertragung auf den Menschen durch einen Mückenstich behindern kann.
Der schwierigste Teil der Forschung war dabei der Transfer des Bakteriums in die Aegypti-Mücke. Da diese sich nicht natürlich mit Wolbachia infiziert, müssen die Bakterien mittels einer hauchdünnen Glasnadel in ein Mückenei von der Größe eines Mohnsamens gespritzt werden. Dabei darf das Ei nicht mehr als eine Stunde alt sein und noch keine Zellen gebildet haben. Die Forscher benötigten Tausende von Versuchen, bis schließlich erfolgreich ein mit einem bestimmten Wolbachia-Stamm infizierter Ägyptischer Tigermückenstamm erzeugt werden konnte.
Mückenpopulation soll ersetzt werden
Ausdrücklich betonen die Wissenschaftler, dass es sich dabei um eine künstliche Einbringung von Wolbachia in den Mückenorganismus handelt und nicht um eine gentechnische Veränderung des Erbguts, weder bei Aedes aegypti noch beim Bakterium. Das Ziel bestehe auch nicht darin, die eingeschleppte Ägyptische Tigermücke aus der Umwelt Brasiliens zu eliminieren, sondern darin, die Arboviren übertragende Mückenpopulation durch eine zu ersetzen, die dank Wolbachia dazu nicht mehr oder in geringerem Maße in der Lage ist.
Dazu tragen zwei Effekte bei: Erstens entsteht bei der Paarung nichtinfizierter Tigermückenweibchen mit freigesetzten Wolbachia-infizierten Männchen keine Nachkommenschaft, ein Phänomen, das auf der sogenannten, durch das Bakterium hervorgerufenen »Zytoplasmatischen Inkompatibilität« beruht. Zweitens produzieren die aus dem Labor freigesetzten Weibchen ausschließlich mit Wolbachia infizierte Nachkommen.
Da also die Befruchtung »wilder« nichtinfizierter Weibchen durch freigesetzte Wolbito-Männchen ergebnislos bleibt, führt nur die Befruchtung freigesetzter infizierter Weibchen zu einer Nachkommenschaft, die wiederum mit Wolbachia infiziert ist. Auf diese Weise, so hoffen die Forscher, werde mit der Zeit die »natürliche« Population gänzlich durch Wolbitos ersetzt, was als »Mückenersatzstrategie« bezeichnet wird.
Die ersten Freisetzungen von rund 300 000 mit Wolbachia künstlich infizierten Mücken fanden 2011 im nordaustralischen Cairns statt. Seitdem gab es Freilandversuche in zwölf Ländern. In Brasilien starteten die Forscher des World Mosquito Program und von Fiocruz erstmals 2014 in Rio de Janeiro Feldversuche. Mehr als 100 000 aus Australien importierte Wolbitos wurden im Viertel Tubiacanga auf der Ilha do Governador freigelassen. Es folgten Freisetzungen in Rios Nachbarstadt Niterói sowie in den Bundesstaaten Mato Grosso do Sul (Campo Grande), Minas Gerais (Belo Horizonte) und Pernambuco (Petrolina). Bei einem zweiten groß angelegten Freisetzungsprojekt in Rio de Janeiro entließen die Forscher zwischen 2017 und 2019 in fünf unterschiedlichen Zonen 67 Millionen Wolbitos.
Laut ersten Studien habe sich, so das WMP, die Wolbachia-Methode klar als wirksam erwiesen. So sei in Cairns die Zahl der gemeldeten Dengue-Fälle um 93 Prozent zurückgegangen und in Yogyakarta in Indonesien um 77 Prozent. In den Freisetzungszonen von Niterói stellten Fiocruz und das WMP eine Verringerung der Dengue-Fälle um rund 70 Prozent, der Chikungunya-Fälle um 56 Prozent und der Zika-Fälle um 37 Prozent fest.
Weniger erfolgreich waren allerdings die Großversuche in Rio de Janeiro, wo sich die Wolbitos nicht wie erwartet durchsetzen konnten. Eine von der Bill & Melinda Gates Stiftung und dem Europäischen Forschungsrat finanzierte Folgestudie kam zum Ergebnis, dass die Freisetzungen in Rio mit einer Verringerung der registrierten Dengue-Erkrankungen um 38 Prozent und einer Verringerung der Chikungunya-Fälle um zehn Prozent verbunden waren.
Methode ohne Nebenwirkungen?
Das offensichtlichste Problem der Freisetzung von Wolbitos ist, dass die lokale menschliche Bevölkerung über einen längeren Zeitraum einer vermehrten Stechmückenplage ausgesetzt ist und Hunderttausende bis Millionen von Labormücken zusätzlich zu ihren natürlichen Verwandten auf der Suche nach Blut sind. Wobei lediglich die Weibchen unter den Stechmücken Blut saugen, da sie es zur Eiproduktion benötigen.
Was die Langzeitfolgen betrifft, so halten die WMP-Forscher ihre Wolbachia-Methode für Menschen, Tiere und Umwelt für sicher. Mit der Freisetzung ihrer Mücken sei nur ein zu vernachlässigendes Risiko verbunden.
In einer von Scott O’Neill und seinem Forscherteam 2010 durchgeführten Risikoanalyse heißt es: »Menschen sind Wolbachia seit Tausenden von Jahren ausgesetzt.« Es gebe keine Hinweise auf eine Gefahr durch Wolbachia für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt. Das intrazelluläre Bakterium könne weder Menschen noch Haustiere infizieren, auch nicht durch einen Mückenstich.
Dies zeigte zudem eine Untersuchung mit freiwilligen Mitarbeitern des Forschungsprojekts in Australien. Diese hatten über einen Zeitraum von drei Jahren Wolbito-Mücken an sich saugen lassen und in keinem Fall wurde Wolbachia übertragen. Laborexperimente ergaben auch, dass das Bakterium zu groß ist, um über den Speichelgang der Mücken in den menschlichen Blutkreislauf zu gelangen. Vernachlässigbar sei auch das Risiko, dass die eingeschleusten Wolbachia-Bakterien auf andere Organismen übertragen werden oder sich im Boden durch verstorbene Mücken etablieren könnten. »Viele Fragen im Zusammenhang mit Langzeitfolgen können aber erst nach erfolgter Freisetzung beurteilt werden«, so Scott O’Neill und sein Team.
Schnelle Mutation von RNA-Viren
Die Forscher James J. Bull und Michael Turelli von der University of Texas kamen 2013 in ihrer Risikobewertung der Freisetzungsversuche zum Schluss, dass evolutionäre Konsequenzen sich nicht sicher vorhersagen lassen. So könnten die in die Ägyptischen Tigermücken eingeschleusten Wolbachia-Stämme ihre das Virus blockierende Wirkung durch die Evolution verlieren. Umgekehrt bestehe auch die Möglichkeit, dass sich die Arboviren weiterentwickeln und die Wolbachia-Blockade überwinden. Dies könnte bereits in einem Zeitraum von zehn Jahren passieren. In einer weiteren Risikobewertung aus dem Jahr 2021 der Monash University in Australien schreiben die Autoren: »Die schnelle Mutationsrate von RNA-Viren legt nahe, dass es unvermeidlich ist, dass sich Dengue-Viren irgendwann an den Selektionsdruck von Wolbachia anpassen und gegen den Eingriff resistent werden. Die Frage ist, wie lange wird das dauern?«
Ähnlich sieht dies der brasilianische Biologe Rafael Maciel de Freitas, der sowohl für Fiocruz als auch am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin arbeitet. Früher oder später, so der Biologe, könnte das Dengue-Virus wahrscheinlich einen Weg finden, den Wolbachia-Effekt in den Ägyptischen Tigermücken zu überwinden.
Eine weitere Sorge der Wissenschaftler der University of Texas ist, dass die künstliche Einbringung von Wolbachia zu noch gefährlicheren und ansteckenderen Viren führen könnte. Zwar gebe es für eine solche Vorhersage keine Grundlage, ebenso wenig gebe es aber Beweise dafür, dass dies nicht geschehen könnte. Eines allerdings steht fest: Ist Wolbachia einmal in eine Wildpopulation von Stechmücken eingebracht, so ist dies irreversibel.
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