Ukraine-Krieg: Stockende Sommeroffensive

Der Ukraine läuft für eine Rückeroberung von Russland besetzter Gebiete die Zeit davon

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Vor zwei Monaten bereits behauptete die Führung in Kiew, dass die Offensive zur Vertreibung der russischen Truppen vom Territorium der Ukraine begonnen habe. Das Operationsziel ist deutlich: Die ukrainischen Truppen sollen mit einem massiven Vorstoß die im Süden errichteten, tief gestaffelten russischen Verteidigungslinien aufbrechen, Moskaus Nachschub kappen und zu erwartende Gegenstöße parieren. Kann man bis zur Küste vorstoßen, gerät auch die 2014 von Russland annektierte Krim, deren Schicksal Präsident Wladimir Putin eng mit seinem Namen verknüpft hat, in Bedrängnis. Das werde »bald« passieren, prahlte der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanow.

Kiews Angriffsbefehl ist im wahrsten Sinne ein »Last Call«. August und September bieten aus meteorologischer Sicht die letzten Möglichkeiten für größere Operationen in diesem Jahr und die Meuterei der Wagner-Söldner Jewgeni Prigoschins im Rücken der russischen Verteidiger hat deren Moral kaum gestärkt. Dennoch: Bislang halten sie stand.

Das könne sich nun ändern, meinten Experten vom Institute of Study of War (ISW) in Washington erst kürzlich. Doch bereits am Wochenende warnte der ISW-Russland-Analyst George Barros vor zu hohen Erwartungen. Auch das Pentagon bleibt zurückhaltend. Man habe, so am Wochenende ein Beamter gegenüber der »Washington Post«, noch »kein großes Gefühl der Zuversicht«.

Dabei zeichnet sich erstmals seit Ausrufung der Offensive eine Hauptstoßrichtung im Südosten des Landes ab. Kiew hat dort Verstärkungskräfte samt Panzertechnik konzentriert. Beispielsweise die 47. Selbstständige mechanisierte Brigade. Es ist vermutlich die schlagkräftigste des ukrainischen Heeres. Sie ist mit in Deutschland hergestellten Leopard-2-Kampf- sowie Bradley-Schützenpanzern aus den USA ausgerüstet und überwiegend im Westen ausgebildet worden.

Reicht das, um die 80 Kilometer bis zur Küste vorzudringen und die Hafenstädte Mariupol sowie Berdjansk zu erobern? Wolodymyr Selenskyjs Statement nach seinem Frontbesuch bei Spezialkräften am Samstag ließ keine Zuversicht erkennen. Man hörte aber – wie seit Wochen – auch keinen Dank in Richtung USA und Nato. Ahnt der ukrainische Präsident, dass man sich dort langsam von der »Alles-oder-nichts-Strategie« entfernt?

In Washington kursieren neuerdings Kosten-Nutzen-Rechnungen. Auffällig ist auch, dass die USA wenig unternimmt, um andere Nato-Staaten bei der Lieferung von Kampfjets und der Pilotenausbildung zu unterstützen. Der nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan bezweifelte vor wenigen Tagen sogar, dass die versprochenen F-16 »eine entscheidende Rolle in dieser Gegenoffensive spielen würden«. Und das, nachdem man gerade Taiwan neue F-16 versprach und auch das türkische Okay zum Nato-Beitritt Schwedens mit derartigen Lieferversprechen erkaufte.

Die fehlende Unterstützung aus der Luft lässt sich auch nicht durch die von den USA gelieferten, aber in ihrer Reichweite bewusst reduzierten taktischen Boden-Boden-Raketen ausgleichen. Belegt ist, dass der Westen den immens kostspieligen Munitionshunger der Ukraine nicht befriedigen kann. Die Lieferung der international geächteten 155mm-Streumunition ist nach Aussage von US-Militärs vor allem dem Mangel in den US-Depots geschuldet.

In der vergangenen Woche verabschiedete der US-Senat das aktualisierte USAI-Programm, mit dem das Pentagon Waffen und Ausbildungshilfe bereitstellt. Es soll bis zum Haushaltsjahr 2027 laufen. Hitzige Debatten im Repräsentantenhaus sind zu erwarten, denn die Republikaner sind von der Dauer und dem Umfang nicht überzeugt. Auf dem Nato-Gipfel vor rund einem Monat in Vilnius war erkennbar, dass Washington vor allem wieder mehr Wert auf seine Indo-Pazifik-Strategie legt.

Kann Selenskyj mit seiner Offensive die USA stärker fesseln? »Die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen militärischen Sieges – definiert als der Rauswurf der Russen aus der gesamten Ukraine, einschließlich der von ihnen beanspruchten Krim – ist militärisch gesehen in naher Zukunft nicht sehr hoch«, sagte der US-Generalstabschef bereits im November. General Mark A. Milley verglich die Situation in der Ukraine mit der 1914 im Ersten Weltkrieg. Auch da bestand ein unauflösbares Gleichgewicht, setzten beide Seiten auf einen totalen Sieg. In den folgenden vier Jahren wurden aus einer Million Toten 20 Millionen. Milley appellierte an die US-Regierung: »Wenn es eine Gelegenheit zum Verhandeln gibt, wenn Frieden erreicht werden kann, ergreifen Sie sie.« Milleys Amtszeit endet im September. Der Ukraine-Krieg sicher nicht.

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