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Drei Jahre nach Explosion in Beirut: Keine Gerechtigkeit in Sicht

Für die Katastrophe in Libanons Hauptstadt Beirut vor drei Jahren will niemand die Verantwortung tragen

Protest: Am dritten Jahrestag der Explosion wurde vor dem Beiruter Hafen demonstriert.
Protest: Am dritten Jahrestag der Explosion wurde vor dem Beiruter Hafen demonstriert.

Volle drei Jahre sind vergangen, seit Beirut von einer schweren Explosion verwüstet wurde. Am 4. August 2020 gingen 2750 Tonnen Ammoniumnitrat in die Luft, die im Hafen der libanesischen Hauptstadt gelagert waren. Das Datum markiert nicht nur den Jahrestag einer Tragödie, bei der 218 Menschen ihr Leben verloren. Es ist zum Symbol all dessen geworden, was in dem Land politisch grundlegend falsch läuft.

Längst ist klar, dass die Explosion hätte verhindert werden können. Dennoch wurde bisher kein einziger Entscheidungsträger zur Rechenschaft gezogen. »Nach drei Jahren ist nichts passiert. Niemand ist im Gefängnis gelandet. Ohne investigative Recherchen der Medien und von NGOs wüssten wir bis heute nicht, was genau damals passiert ist«, erzählt die Aktivistin Tracy Naggear, die sich für eine rechtliche Aufarbeitung des Falls einsetzt, im Podcast »Sarde after Dinner«. Der Journalist Riad Kobaysi war einer der Ersten, die eine ausführliche Analyse zu den Hintergründen der Explosion veröffentlichten. 2021 erschien dann ein umfangreicher Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), der aufdeckte, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte und wer sie zu verantworten hat.

Bereits im November 2013 dockte ein von einem russischen Geschäftsmann geleaster Frachter im Beiruter Hafen an, der 2750 Tonnen Ammoniumnitrat an eine Firma in Mosambik liefern sollte. Weil der Russe sich weigerte, eine Zollgebühr zu zahlen, wurde die »MS Rhosus« samt Crew und dem hochexplosiven Stoff elf Monate lang im Hafen festgehalten. Im Oktober 2014 musste das Schiff repariert werden. Die libanesische Regierung unter Premier Tammam Salam wollte dafür nicht aufkommen und beschloss, das Ammoniumnitrat im Hangar 12 – in nächster Nähe einer dicht besiedelten Wohngegend – zu lagern. Ab diesem Moment lag eine Bombe in Beirut, die erst sechs Jahre später explodieren sollte.

Sechs Jahre, in denen niemand dafür sorgte, dass der explosive Stoff abtransportiert oder zumindest ausreichend gesichert wurde. Laut der HRW-Recherche hat der Hafensicherheitsdienst keine Schritte unternommen, um die Lagerbedingungen an internationale Sicherheitsstandards anzupassen. Auch ein Notfallplan – etwa für den Fall eines Brandes – existierte nicht. Die libanesische Armee, damals unter Brigadegeneral Jean Kahwaji, interessierte sich nicht für das Nitrat. Sie erklärte damals, sie habe keinen Bedarf an dem Material, obwohl es sich für die Herstellung von Sprengstoffen eignet. Die Armee unternahm ebenfalls nichts, um den hochexplosiven Stoff sicher zu lagern.

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Inzwischen ist bekannt, dass etliche hochrangige Politiker und Militärs über die von dem Ammoniumnitrat ausgehenden Gefahren informiert waren und es laut HRW-Bericht »versäumten, die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der Öffentlichkeit zu ergreifen«. Darunter der damalige Präsident und einer der Anführer der maronitischen Christen Michel Aoun, der von Aoun ernannte Premierminister Hassan Diab, der Generaldirektor für Staatssicherheit, Generalmajor Tony Saliba, der ehemalige Finanzminister Ali Hassan Khalil von der schiitischen Partei Haraket Ammal sowie sein Parteikollege und Minister für öffentliche Arbeiten und Verkehr Ghazi Zeaitar. Auch Saad Hariri, Sohn des früheren Regierungschefs Rafic Hariri, der zuerst 2006 und dann wieder 2016 Premierminister war, soll von dem Nitrat gewusst haben.

Am 4. August 2020 passierte dann das, was die libanesischen Politiker förmlich heraufbeschworen hatten: In Hangar 12 brach ein Feuer aus, dessen Ursache bis heute nicht sicher bekannt ist. Die Feuerwehrleute, die gerufen wurden, um den Brand zu löschen, liefen unwissend in den sicheren Tod. Sie versuchten, das Feuer mit Wasser zu löschen. Ein fataler Fehler, denn Wasser fungiert als Katalysator für den explosiven Stoff.

Von dem Moment, der folgte, kursieren unzählige Videos im Netz, die alle in etwa das Gleiche zeigen: eine dicke, graue Rauchwolke und Stichflammen, die von ebenfalls im Hafen gelagerten Feuerwerkskörpern stammen. Danach geht alles ganz schnell: Das Nitrat verursacht eine gewaltige Explosion, die in nur wenigen Sekunden vom Hafen aus über die Stadt hinwegfegt.

Die Stadtteile in direkter Nähe des Hafens wurden komplett zerstört. Etwa 300 000 Menschen verloren an diesem Abend ihre Wohnung. Unter den 218 Toten waren auch drei Kinder. 7000 Menschen wurden verletzt, von denen etwa 150 körperlich behindert blieben. Mar Mikhael und Gemmayze, zwei Straßen, deren Restaurants und Bars an einem solchen Sommerabend normalerweise prall gefüllt mit Menschen sind, waren am nächsten Tag kaum wiederzuerkennen. Wegen Corona war damals alles geschlossen – ein großes Glück im Unglück der Pandemie. »Noch heute höre ich das Geräusch von zerbrochenem Glas, das uns wochenlang bei den Aufräumaktionen begleitete«, berichtet der in Beirut lebende Aktivist Amir Fakih »nd«.

Nach der Katastrophe war die libanesische Bevölkerung auf sich allein gestellt: Alle halfen irgendwie mit und räumten gemeinsam die Stadt auf. Nur der Staat tat kaum etwas. »Während wir die Menschen bargen, die getötet worden waren, während wir Freunde und Familienmitglieder beerdigten, bereiteten sie sich auf den Protest vor und luden ihre Maschinenpistolen«, erzählt Mouin Jaber Host bei »Sarde after Dinner«. »Da begreifst du, wer sie sind. Es sind Kriminelle, aber auf einem ganz anderen Level.« Mit »sie« meint er die libanesische Regierung und das Militär, das bei einem Massenprotest wenige Tage nach der Explosion mit scharfer Munition auf Demonstranten schoss.

Die libanesischen Behörden versprachen, dass die Ursache der Explosion umgehend untersucht werde. Seitdem haben laut HRW jedoch eine Reihe von »Verfahrens- und Systemfehlern« dazu geführt, dass nicht glaubwürdig ermittelt wurde. Der Richter Tarek Bitar zum Beispiel arbeitet seit inzwischen zwei Jahren an dem Fall. »Seine Ermittlung wurde bisher 25-mal unterbrochen, weil niemand an der Macht daran interessiert ist, dass er damit irgendwohin kommt«, erklärt Naggear.

Um zu verstehen, wie das möglich ist, wäre ein genauerer Blick auf das notorisch komplizierte politische System des Libanons nötig. Journalistin Lina Mounzer gelingt in einem Artikel für die »Washington Post« eine passende Zusammenfassung: »Die libanesische Politik lässt sich am besten mit der Logik eines Mafia-Staates verstehen: Nichts geschieht ohne das Mitspracherecht der Dons.« Die Sektenführer, die nach Ende des libanesischen Bürgerkrieges trotz beziehungsweise wegen ihrer Kriegsverbrechen an die Macht gekommen sind und sich ewige Immunität gegeben haben, sind an allem im Land beteiligt – auch am Hafen, erklärt Mounzer. »Bis heute gibt es keine Antworten oder Entschädigungen für die Familien der 150 000 Bürgerkriegstoten. Das ist das Land, in dem das Ammoniumnitrat abgeladen wurde.«

»Die einzigen Erfolge unserer Anstrengungen konnten wir außerhalb des Landes erzielen«, beklagt Naggear. Zusammen mit zwei anderen Familien, die wie sie ihr Kind verloren hatten, verklagte sie die britische Firma Savaro, der das Nitrat gehörte. Im Juni befand ein Gericht in London das Unternehmen für schuldig; es soll rund eine Million Euro an die Opfer zahlen. »Aber das wollten wir gar nicht. Libanon ist unser Land. Die Explosion ist hier passiert und nicht in Großbritannien oder den USA. Wir hätten im Libanon Gerechtigkeit erlangen sollen, und wir kämpfen weiter dafür.«

Drei Jahre nach der Explosion sieht es nicht so aus, als würde sich an dem durch und durch korrupten politischen System sobald etwas ändern. Die, die an der Macht sind, haben daran kein Interesse. Das Sekten basierte Wahlsystem, das zu Kolonialzeiten von Frankreich eingeführt wurde, hält sie am Ruder. Alle Versuche der Bevölkerung, einen politischen Wandel zu forcieren, wie etwa die revolutionären Aufstände von 2019, sind gescheitert.

Man kann die Beiruter Katastrophe nicht einmal zum Staatsversagen erklären. Das würde voraussetzen, dass der Staat es sich überhaupt erst zum Ziel gemacht hätte, seine Bevölkerung zu schützen. Gegen Ende des Gesprächs mit dem »nd« sagt Fakih: »An ein funktionierendes Rechtswesen glauben wir schon lange nicht mehr. Das Einzige, was sicher ist: An diesem Tag ist in uns allen etwas gestorben.«

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