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Olaf Scholz: Kein Interesse am internationalen Recht
Kanzler Scholz blockiert Stellungnahme zu Israels Palästina-Besatzung
Im Dezember letzten Jahres forderte die UN-Generalversammlung den Internationalen Gerichtshof (IGH) dazu auf, die israelische Besatzung des palästinensischen Westjordanlands auf deren völkerrechtliche Legalität zu überprüfen. Das Auswärtige Amt (AA) unter Leitung der Grünen-Außenministerin Anna-Lena Baerbock hatte laut Meldung des Journalisten Tilo Jung ein eigenes juristisches Gutachten zu der Frage anfertigen lassen. Die Stellungnahme aus Deutschland wurde aber offenbar nie ans IGH geschickt, wie Jung aus Regierungskreisen erfahren habe. Als Grund nennt der Journalist eine direkte Intervention aus dem Kanzleramt.
Die Pressestelle des AA wollte sich auf Nachfrage des »nd« nicht zu der Thematik äußern. 57 weitere Staaten, darunter die USA, Frankreich und Großbritannien, haben ihre Einschätzungen bis zur gesetzten Frist am 25. Juli schriftlich beim IGH in Den Haag eingereicht. Die fehlende Stellungnahme aus Berlin würde zur Folge haben, dass Deutschland, eigentlich ein prominenter Unterstützer des UN-Gerichts, sich bei der historischen Frage der Legalität der Besatzung palästinensischer Gebiete enthält, schrieb Jung am Mittwochabend auf der Internetplattform »X«.
Zwar ist das Ergebnis der IGH-Untersuchung nicht rechtlich bindend für die UN-Mitgliedstaaten. Dennoch wäre es eine wichtige Grundlage für Positionen, nach denen es sich bei der starken israelischen Präsenz im Westjordanland nicht um eine temporäre, sondern um eine dauerhafte und damit völkerrechtlich nicht legitime Militärbesatzung handelt.
Israel hat das Westjordanland, den Gazastreifen und Ost-Jerusalem 1967 im sogenannten Sechstagekrieg mit Ägypten erobert. Seither ist die israelische Armee im Westjordanland omnipräsent. Palästinenser*innen stehen dort nicht unter zivilem Strafrecht, sondern unter israelischem Militärrecht. Das bedeutet unter anderem, dass vor Gericht nicht wie gewöhnlich die Schuld von Angeklagten bewiesen werden muss, sondern deren Unschuld – ganz im Gegensatz zu israelischen Staatsbürgern. Zudem leben Hunderttausende israelische Siedler*innen in den palästinensischen Gebieten, obwohl der Ausbau der Siedlungen über die sogenannte Grüne Linie, also die Grenze zum Westjordanland, nach internationalem Recht illegal ist.
Aufgrund der massiven Diskriminierung von Palästinenser*innen in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten hatte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch Israel 2021 in einem umfangreichen Gutachten der Apartheid bezichtigt. Amnesty International und die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem veröffentlichten Berichte mit einem ähnlichen Ergebnis.
Die deutsche Regierung und der Bundestag lehnen den Begriff Apartheid genau wie die Einschätzung, dass es sich im Westjordanland um eine permanente Militärbesatzung handelt, grundsätzlich ab. Israel und Deutschland sind seit Jahrzehnten wirtschaftlich wie politisch eng verbunden. Laut der Analyse des Politologen Daniel Marwecki profitiert der deutsche Staat von der Freundschaft vor allem durch eine Imageaufbesserung, die aus der Unterstützung Israels der letzten Jahre folgte. Zudem sei Israel aber auch ein wichtiger Abnehmer für Deutsche Waffen, wie er in seinem Buch »Whitewashing and Statebuilding« betont.
Wie schon seine Vorgängerin Angela Merkel scheint auch Olaf Scholz an dieser deutsch-israelischen Freundschaft festhalten zu wollen. Das obwohl die neue, ultrarechte Regierung unter Benjamin Nethanjahu aggressiver denn je gegen Palästinenser*innen vorgeht und derzeit über eine Justizreform die israelische Gewaltenteilung schrittweise abschafft.
Die deutsch-palästinensische Wissenschaftlerin Dr. Anna-Esther Younes kritisierte die Entscheidung des Bundeskanzlers gegenüber dem »nd«: Palästinenser*innen spielten für Scholz keine Rolle, so Younes, »dafür sind ihm die sicherheitspolitische Zusammenarbeit auf der Basis von technologischen, polizeilichen und militärischen Neuerungen mit Israel wichtiger.« So reihe sich der Bundeskanzler in ein langes Erbe liberaler und konservativer Politiker wie etwa Franz-Joseph Strauß ein, der in seiner Zeit die Apartheid in Namibia ignorierte.
Auch Majed Abu Salama von »Palästina Spricht« ist von der Entscheidung nicht überrascht. Dennoch sei es schockierend zu sehen, wie weit der deutsche Staat geht, um Israel zu schützen. »Palästinenser zahlen dafür den Preis«, so Abu Salama zum »nd«.
Omri Boehm, ein israelischer Philosoph und Autor, betont gegenüber dem »nd«, eine solchen Blockade sei besonders mit Blick auf die derzeitige israelische Regierung sehr bedeutsam. Diese habe nämlich ausdrücklich zur vollen Annexion und sogar der ethnischen Säuberung der palästinensischen Gebiete aufgerufen. »Damit ist die Rolle des Völkerrechts viel wichtiger geworden, um ein Gleichgewicht herzustellen und künftige anti-palästinensische Maßnahmen Israels zu verhindern«, so Boehm. »Wenn Deutschland weiterhin die Autorität des Völkerrechts nicht anerkennt, untergräbt es die eigene Erinnerungskultur.«
Die Entscheidung von Olaf Scholz bestätigt den Eindruck, dass der Bundesregierung die Einhaltung internationalen Rechts nur dann wichtig ist, wenn es für sie von politischem Vorteil ist. Die Wahrung palästinensischer Rechte liegt spätestens seit den Normalisierungsabkommen von 2020 allein im Interesse von Palästinenser*innen selbst und den internationalen Aktivist*innen, die sich seit Jahrzehnten mit ihrem Anliegen solidarisieren.
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