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Fitness-Rückstand an Schulen: Wie ein Jahr lang rauchen
Seit der Corona-Pandemie hinken Schulkinder beim Sport hinterher – mit »Berlin hat Talent« will der Senat aufholen
70 000 Kinder, 290 Schulen und ein klares Ergebnis: Um rund ein Jahr hat die Corona-Pandemie Berliner Schüler*innen in Sachen Fitness und Sportlichkeit zurückgeworfen. Das zumindest ergibt eine neue Studie des Landessportbundes Berlin (LSB) sowie der Bildungsverwaltung und Innenverwaltung.
»Das ist etwa derselbe Effekt, den ein Jahr lang Rauchen ausmacht«, sagt Jochen Zinner, Professor für Sportwissenschaft, zu »nd«. Für die Deutsche Hochschule für Gesundheit und Sport (DHGS) hat der Hochschullehrer die wissenschaftliche Begleitung der Studie angeleitet. Seit 2011 wurden die Daten von Berliner Drittklässler*innen gesammelt und ausgewertet, alles im Rahmen des Förderprogramms »Berlin hat Talent«. Das Projekt basiert auf einem jährlichen Motoriktest, bei dem Kinder an Berliner Schulen auf ihre Bewegungsfähigkeit und Fitness geprüft werden.
Just am Mittwoch verkündet CDU-Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch den Umbau von »Berlin hat Talent«: Eine Kooperationsvereinbarung mit dem Sportmedizinischen Institut der Berliner Humboldt-Universität soll künftig dazu führen, Kinder noch präziser nach ihren individuellen Bedürfnissen zu fördern. Günther-Wünsch spricht von leichten Fortschritten im Schuljahr 2020/2021, erkennt aber auch ein »größeres Leistungsgefälle« unter den Kindern.
»Natürlich sind die Auswirkungen der Pandemie auf Fitness und Sportlichkeitkeit erheblich«, teilt die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie auf Anfrage von »nd« mit. Über das nun aktualisierte Bonusprogramm hätten »insbesondere Schulen in schwieriger Lage die Möglichkeit und zusätzliches Geld«, um sich weitere Bewegungsangebote in die Schulen zu holen. Zudem verweist der Senat auf die am Dienstag angekündigte Verstetigung der Schwimmintensivkurse in den Ferien und den Ausbau zusätzlich betreuter Schulschwimmzentren.
Immerhin ein Anfang, findet DHGS-Professor Zinner. »Egal ob Schwimmen, Langlauf, Kegeln – Hauptsache, die Kinder bewegen sich zielgerichtet«, kommentiert er. Wie groß der Handlungsbedarf ist, zeigt seine Studie: Noch vor der Pandemie machte der Anteil übergewichtiger Kinder an Berliner Schulen 19,5 Prozent aus. Dann stieg er auf 21,2 Prozent an. »Nicht jeder, der dick ist, ist automatisch krank«, sagt Zinner. Übergewicht, Diabetes, Probleme mit Herz und Kreislauf würden aber wahrscheinlicher. Und: »Schlechte Fitness in der Jugend trägt latent dazu bei, dass man auch im Alter inaktiv ist.«
Krasser als beim Übergewicht fallen die Zahlen am anderen Ende des Spektrums aus. Mit ehemals 20 Prozent an überdurchschnittlich fitten Schulkindern konnte sich Berlin einst gut sehen lassen. »Das ist eine vernünftige Zahl im bundesweiten Vergleich«, ordnet Zinner ein. In der Pandemie blieb davon nicht mehr viel übrig. Nur noch zwölf Prozent der Kinder gelang es dann noch, sich im Test als »motorisch fit« zu erweisen. »Diejenigen, die besonders fit waren, sind stärker abgefallen als diejenigen, die ohnehin keinen Sport gemacht haben.«
Einen absoluten Tiefstand verzeichnete Berlin auch, was die Mitgliedschaft von Schulkindern in Sportvereinen angeht. Waren vor Pandemiebeginn noch 42,5 Prozent in einem Verein aktiv, stürzte der Wert während der Pandemie auf 36,3 Prozent. »Für die motorische Fitness spielt die regelmäßige Bewegung in einem Verein natürlich eine bedeutende Rolle«, sagt Zinne. Während der Lockdowns sei es Kindern nicht mehr möglich gewesen, ins Training zu gehen. Manche hätten dadurch den Anschluss verloren.
Für all diese Werte galt schon vor Corona: Wer ärmer ist, dem fällt es schwerer, fit zu bleiben. Um sozioökonomische Zusammenhänge zu prüfen, ging die Studie einst an den Start. Im achten Jahr kam dann die Pandemie. »Im Vergleich zu vielen anderen können wir deshalb auch sagen, was vorher war«, hält Zinne fest.
In der Pandemie, so der Sportwissenschaftler, habe sich der Unterschied zwischen armen und besser gestellten Kindern noch einmal deutlich vergrößert. »Besonders besorgniserregend ist die Verkettung der einzelnen Faktoren, die hier stattgefunden hat.« Kein großer Garten, keine Ausflüge mit sportlich aktiven Eltern und keine Angebote an der Schule im sozial vernachlässigten Kiez – armutsbetroffene Kinder könnten schlichtweg nicht mithalten. Fitness, Übergewicht, Vereinszugehörigkeit und sozialer Status, all das hänge zusammen.
Damit die Berliner Schüler*innen aufholen können, plädiert Zinner für eine Stärkung des kompetitiven Gedankens. »Spaß und Wettbewerb müssen kein Gegensatz sein«, sagt der Sportwissenschaftler. Gerade im Vergleich mit anderen würden sich motivierende Erfolgserlebnisse einstellen. Die Lust auf Leistung dürfe nicht verdrängt werden, nur damit es keine Verlierer*innen gebe.
Der LSB widerspricht dem zumindest teilweise. »Im Sportunterricht geht es nicht um Leistungssport«, teilt der Landessportbund »nd« mit. Viele Kinder könnten sich zwar für Leistung begeistern, andere müssten aber erst an die Freude an Bewegung herangeführt werden. »Dabei hilft vor allem der Blick auf die individuellen Fähigkeiten jedes einzelnen Kindes.«
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