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- Wandern in Kataloniens Pyrenäen
Archaische Feuer, verdrehte Wasser: Wanderung im Vall de Boí
Es gibt viele Gründe, das Vall de Boí in den katalanischen Pyrenäen zu besuchen: Neben dem Nationalpark Aiguestortes lockt hohe Baukunst. Und manchmal auch das wilde Treiben von Pyromanen
Eulensee, Mönchsee, Klostersee: Wer sich wohl die Namen für die vielen Seen im Nationalpark Aiguestortes ausgedacht hat? Auch einen Langen See gibt es, einen runden und einen schwarzen. Insgesamt sollen es um die 200 Seen sein, die um die Berge aus Granit und Schiefer mäandern. Daher der Name Aiguestortes – verdrehte Wasser. »Sie sind das Relikt von kilometerlangen Gletschern, die sich in der Eiszeit vor über 500 Millionen Jahren durch die Täler geschoben haben«, erklärt Roc von der Nationalparkbehörde. Das Postkartenmotiv schlechthin ist der Llac de Sant Maurici, in dem sich die Hochgebirgslandschaft am schönsten spiegelt.
Ohne die vielen Seen würden wir uns wie in den Alpen fühlen. Unterhalb der dreitausend Meter hohen Gipfel blühen schließlich jede Menge Alpenrosen, hier und da auch Enzian, die Waldböden zwischen Tannen und Schwarzkiefern sind von Heidelbeerpflanzen bedeckt. »Bald werden sie reif«, freut sich der Guide. Er ist froh, endlich mal wieder aus dem Büro herauszukommen. Mit geländegängigem Großraumtaxi sind wir vom Tal aus an Weideflächen und einem Wasserfall vorbei auf etwa 1700 Meter gefahren – private Pkw sind im Nationalpark nicht zugelassen.
- Informationen zum katalanischen Nationalpark Aiguestortes findet man auf der Website www.visitpirineus.com. Für Mehrtageswanderungen muss man rechtzeitig Schlafplätze in den Hütten reservieren.
- Guter Ausgangspunkt für Wanderungen im Nationalpark ist das Ein-Stern-Hotel L’Aüt in Erill la Vall, das auch mit guter Küche überzeugt. Gut essen kann man außerdem im Ca de Xoquin im Dörfchen Durro.
- Wissenswertes über das romanische Welterbe findet man unter www.centreromanic.com. Die Fallas-Feste in 63 Pyrenäendörfern beginnen Mitte Juni und ziehen sich bis Ende Juli hin. Allen weiteren Infos unter www.vallboi.com oder www.catalunya.com
Oben angekommen, blicken wir von einem spektakulären Aussichtsbalkon noch mal ins Tal zurück, dann geht es gemütlich bergauf. Rechts und links plätschern kleine Rinnsale, hier und da führen Holzstege über ein Feuchtbiotop, dann wieder rauschen wilde Gebirgsbäche an uns vorbei. Rundum die Gipfel gleich mehrerer Dreitausender. Am markantesten ist der Doppelgipfel Encantats, was wörtlich übersetzt »die Verzauberten« heißt. Der Sage nach sollen es zwei Jäger gewesen sein, die dem Gottesdienst fernblieben, um jagen zu gehen. Zur Strafe wurden sie versteinert. Aber dieses Spektakel aus Granit bekommt man erst zu sehen, wenn man die Kernzone des Nationalparks durchquert hat. Dabei brauchen wir schon für die erste Etappe viel länger als geplant, weil es unterwegs so viel zu fotografieren gibt. »Seht ihr die rosa Blumen da?«, fragt Roc, kniet sich nieder und zeigt uns eine seltene Orchideenart, die am Rand eines Bachs blüht. Dann entdecken wir Roten Fingerhut und gelben Hahnenfuß. Oder einen Schmetterling, der nicht von der Hand einer Wanderin weichen will.
Gewaltiges Panorama
Kurz vor der Baumgrenze erreichen wir schließlich die Hütte Estany Llong, kurz darauf den gleichnamigen Langen See. Tiefblaues Wasser, das im schönen Kontrast zu den hellgrauen Granitfelsen steht. Das ist sozusagen die Einstiegsdroge. Statt hier wie geplant zu picknicken, zieht es uns zum nächsten See, dem runden Estany Redó, der nur eine halbe Stunde entfernt weiter oben liegt. Da ist das Hochgebirgspanorama gleich noch gewaltiger. So könnte es weitergehen: »Von hier kann man in ein paar Stunden zum Sant Maurici-See weiterlaufen«, sagt der Guide, »und theoretisch auf der Carros-de-Foc-Route eine ganze Woche lang von einem See zum anderen und von Hütte zu Hütte wandern.« Aber nur theoretisch. Abgesehen davon, dass man die begehrten Schlafplätze lange im Voraus reservieren muss, sind inzwischen dunkle Wolken aufgezogen. Viel regnen soll es zwar nicht, aber gewittern könnte es schon.
Also sehen wir zu, dass wir rechtzeitig ins Tal zurückkommen. Wo es ja noch genug zu sehen gibt. Dem Nationalpark zu Füßen liegt Welterbe der Unesco in Form von neun romanischen Kirchen aus dem 11. und 12. Jahrhundert. So hohe Baukunst in einer so unzugänglichen, einsamen Gegend? Auch die, die sich sonst nicht unbedingt für mittelalterliche Baukunst erwärmen können, sind neugierig geworden auf die 900 Jahre alten Sakralbauten, die mit ihren filigranen Glockentürmen aus den archaischen Häuserlandschaften ragen.
Nach einer kurzen Stippvisite in einem der Gotteshäuser geht es am nächsten Tag nach dem Seen- zum Kirchen-Hopping. Mit Annas Hilfe, die in Taüll als Führerin arbeitet, versetzen wir uns in die Zeit um 1123, als die Basilika Sant Climent geweiht wurde. Damals muss den Menschen beim Betreten der Schreck in die Glieder gefahren sein. Aus der idyllischen Gebirgslandschaft kommend standen sie plötzlich dem Weltenrichter gegenüber, der einen aus der Apsis mit strengen, weit geöffneten Augen anblickt. Den Zeigefinger der rechten Hand zu einem überdeutlichen, fast drohenden Segen erhoben, hält er in der linken ein aufgeschlagenes Buch mit der Botschaft: Ergo Sum Lux Mundi – Ich bin das Licht der Welt.
Und daran lässt die Darstellung keinen Zweifel. Wenn uns heute die grellen Farben und geradezu expressionistischen Formen in den Bann ziehen – wie müssen sie erst auf Menschen des 12. Jahrhunderts gewirkt haben, die nicht an alle möglichen Medien gewöhnt waren? Der Effekt war natürlich gewollt. Nicht nur vom Künstler, sondern auch seinen Auftraggebern, der mächtigen Adelsfamilie Erill, die seit dem 11. Jahrhundert das Tal beherrschte. Vom Frankenreich im Norden hatten sie sich emanzipiert, gen Süden waren die Mauren vertrieben. Nun galt es, die neu gewonnene Macht zu demonstrieren. Dabei wurde ordentlich geklotzt. Nicht allein, dass gleich neun Kirchen auf relativ engem Raum entstanden – auch vom Stil her lagen sie ganz im Trend der Zeit: der Romanik, dem ersten gesamteuropäischen Baustil, der im 11. und 12. Jahrhundert Katalonien eroberte.
Baumeister aus der italienischen Lombardei hatten ihn mitgebracht. »Wobei im Innenraum von Taüll ein ganz besonderer Künstler am Werk gewesen sein muss. Die Fresken sind von höchster Qualität«, ist Anna überzeugt. Ob es der zu einer Blume stilisierte Bart der Christusfigur ist oder der Markus-Löwe, der aus seinem Medaillon herauszuspringen droht – die fantasievollen Details sind minutiös ausgeführt. Wobei die ursprünglichen Fresken kaum noch zu erkennen sind. Nur mithilfe einer Projektion, dem sogenannten Videomapping, wird uns das Wunderwerk vor Augen geführt.
Originalfresken in Barcelona
Zwar sind die Originale weder verblichen noch zerstört worden. Stattdessen hängen sie im Katalanischen Nationalmuseum in Barcelona. Als man Anfang des 20. Jahrhunderts zu begreifen begann, dass im Nordwesten Kataloniens eine Sternstunde der Romanik geschlagen hatte, wurden die Fresken in einem aufwendigen Verfahren abgetragen und in die Großstadt gebracht. Nicht ganz zu Unrecht, wie die Katalanin weiß: »Damals gab es noch keine entsprechende Gesetzgebung, und so hatte man nicht verhindern können, dass Malereien aus dem Nachbartal im Museum von Boston landeten.« Das sollte sich im Vall de Boí nicht wiederholen. So beschloss der Museumsrat 1919, die Fresken im Museum zu konservieren.
Die Kirchen selbst stehen heute unter dem Schutz der Unesco. Und wenn die Seen das Markenzeichen des Nationalparks sind, sind sie das Erkennungszeichen der Dörfer. Ob heutige Gebäude, die als Architektur-Ikonen gefeiert werden, in 900 Jahren auch noch die Menschen beeindrucken?
Fest mit brennenden Fackeln
Doch kann man sich im Vall de Boí nicht nur an alter Bausubstanz sattsehen. Spätestens zur Sommersonnenwende im Frühsommer erwacht sie aus dem Dornröschenschlaf. Von Mitte Juni bis Ende Juli werden in 63 Pyrenäendörfern die sogenannten Fallas gefeiert, die seit 2015 ebenfalls zum Welterbe der Unesco gehören. Dann sind es vor allem junge Männer und Frauen, die die Orte aufmischen. Mit brennenden Fackeln, die sie oben in den Bergen an Scheiterhaufen entzünden und bei Dunkelheit in die Dörfer tragen, um sie von bösen Geistern zu reinigen. Dabei gehen sie nicht gerade zimperlich vor. Flammen lodern, Funken sprühen, Holzscheite fliegen durch die Luft, um wenig später auf dem Boden zu verglühen, wenn die Fackelträger in immer schnellerem Tempo die Gassen stürmen. Wir weichen ängstlich zurück. Aber die Einheimischen applaudieren und feuern die bis zu 150 Fallaires zusätzlich an. Ein uraltes Ritual, das wahrscheinlich viel älter ist als die romanischen Kirchen und das Vall de Boí immer wieder mit Leben füllt.
Die Recherche wurde unterstützt vom Spanischen Fremdenverkehrsamt, Katalonien Tourismus, sowie den Fremdenverkehrsämtern vom Vall de Boí, der Alta Ribagorça und Lleida.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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