Catherine Liu rechnet mit der »Professional Managerial Class« ab

Moral predigen im Dienste des Kapitalismus: Die US-amerikanische Autorin Catherine Liu rechnet mit der »Professional Managerial Class« ab

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 6 Min.

Spätestens der Sieg eines AfD-Kandidaten bei der Landratswahl im südthüringischen Sonneberg hat drastisch gezeigt, dass es im Verhältnis von Regierenden und Regierten knirscht. Die politische Elite scheint sich von einem großen Teil der Bevölkerung entkoppelt zu haben, Stadt und Land fremdeln, West und Ost sowieso. Ob bei der Rechtfertigung der Corona-Maßnahmen, der Diskussion um Waffenlieferungen an die Ukraine oder der Bewältigung der Klimakrise: Offensichtlich scheiterte bei nicht Wenigen der Versuch, mit moralischen Argumenten umstrittene Entscheidungen zu begründen. Gegen das Virus müssen wir jetzt alle zusammenstehen! Im Krieg werden auch unsere Werte verteidigt! Die Heizungen müssen sofort ausgetauscht werden!

Catherine Liu, Professorin für Film und Medien an der University of California in Irvine und einst Unterstützerin der Präsidentschaftskandidatur von Bernie Sanders, hat über diese linksliberale Politikform ein Buch geschrieben. Zwar ist ihre Abrechnung mit den »Tugendpächtern« noch während der Amtszeit von Donald Trump entstanden. Die erst jetzt erschienene deutsche Übersetzung ist deshalb aber keineswegs uninteressant. Lius vorwiegend auf die Vereinigten Staaten bezogene Darstellung einer »neuen Klasse«, die sich »mit Moral tarnt und Solidarität verrät«, weist an vielen Stellen Parallelen zur Situation in Deutschland auf.

Die Analyse eines Milieus, das positiv konnotierte Tugenden exklusiv für sich gepachtet zu haben scheint, lässt an die Auftritte grüner Politiker*innen wie Annalena Baerbock, Robert Habeck oder Ricarda Lang denken. Wir wissen es einfach besser, aber wir erklären es euch immerhin, in diesem Prediger-Duktus wird nicht nur die Bevölkerung adressiert. Auch ausländische Staatschefs werden im Namen einer wertegeleiteten Außenpolitik belehrt.

Zentraler Ausgangspunkt in Lius Argumentation ist die sogenannte Professional Managerial Class (PMC) – ein Begriff, den das US-amerikanische Autorenpaar Barbara und John Ehrenreich schon 1977 prägte. Sie charakterisierten damit ein Milieu, das im klassischen marxistischen Denken einst als Kleinbürgertum bezeichnet wurde, die Soziologie würde heute eher von der »oberen Mittelschicht« sprechen. Die PMC besteht aus erfolgreichen, gut qualifizierten Angestellten mit Hochschulabschluss, die aber keine Rentiers oder Kapitalisten sind. »Sie müssen arbeiten, also ihre Arbeitskraft verkaufen, aber sie unterscheiden sich sehr von der Arbeiterklasse, deren Körper während des Arbeitstages Schaden nimmt«, schreibt Liu. Es handele sich um Fachleute mit spezialisierter Ausbildung, die von zumeist ständisch organisierten Verbänden zertifiziert und reguliert wird. Gemeint sind zum Beispiel die akademischen Berufe in Forschung und Lehre, in Verlagen, Zeitungen oder Sendern, im höheren öffentlichen Dienst, in Beratung und Jurisprudenz.

Das Ehrenreich-Buch wies schon Ende der 1970er Jahre darauf hin, dass die Werte und Weltanschauungen der PMC die Priorität der sozialen Frage und die Anliegen der Arbeiterklasse in der Demokratischen Partei der Vereinigten Staaten immer mehr verdrängten. Die seit Anfang des 20. Jahrhunderts immer größer gewordene Klasse führe eine neue Art des Klassenkampfs, lautet die Kernthese Lius. Dieser richte sich »nicht etwa gegen Kapitalisten oder den Kapitalismus selbst, sondern gegen die Arbeiterklasse«. Letztere sei keine Gruppe, die »es wert ist gerettet zu werden, weil sie sich, gemessen an PMC-Maßstäben, nicht anständig benimmt«. Stattdessen seien die Arbeiter*innen »entweder politikverdrossen oder zu wütend, um höflich zu sein«.

Die liberale Elite verachte die Unterschichten, halte sie für hoffnungslos rückständig und reaktionär. Dagegen pachte die PMC »alle Formen von säkularisierten Tugenden«. Immer dann, wenn der Kapitalismus eine politische und wirtschaftliche Krise verursacht, verwandelt sie »den Kampf um politische Kurswechsel und wirtschaftliche Umverteilung in individualisierte Passionsspiele«. Moral werde zum persönlichen »Accessoire« und diene dazu, die eigene Überlegenheit gegenüber einer angeblich minderwertigen Arbeiterklasse auszustellen. Tugend werde zur »reinen Prahlerei«, das liberale akademische Milieu damit zu einem Teil der herrschenden Klasse – ohne selbst in größerem Umfang über unternehmerisch einsetzbare Produktionsmittel zu verfügen.

Das PMC-Milieu, so Liu, sei heute einer der stärksten Treiber der sich progressiv gebenden globalisierten Wirtschaft und ihrer brutalen Leistungsideologie. Es rede »lieber über Vorurteile als über Gleichheit, über Rassismus als über Kapitalismus, über Sichtbarkeit als über Ausbeutung«. Liu kritisiert die einseitige Fixierung auf identitätspolitische Konzepte wie Gender und Race, dagegen werde die Kategorie der Klasse vernachlässigt. Sie bezieht sich auf marxistische Autoren wie den Literaturtheoretiker Fredric Jameson, die eine »kulturelle Wende« im Verständnis sozialer Gegensätze konstatieren: Wirtschaftliche Rahmenbedingungen träten in den an den Universitäten goutierten poststrukturalistischen Theorien zugunsten von »Geschmäckern und Affekten« in den Hintergrund. Ähnlich hatte nach dem Wahlsieg Trumps 2016 schon der Politikwissenschaftler Mark Lilla in der »New York Times« argumentiert. Er versuchte damals zu erklären, warum so viele Arbeiter*innen, aus seiner Sicht nur scheinbar überraschend, einen rechten Populisten gewählt hatten. Lilla verwies auf das offensichtliche Bündnis der Demokratischen Partei mit der Wall Street und dem Digitalkapital im Silicon Valley. Er kritisierte die abwertenden, die Arbeiterklasse beleidigenden Äußerungen der unterlegenen Kandidatin Hillary Clinton, die zu ihrem Misserfolg beigetragen hätten. Vor allem die »Angry white men«, deklassierte und verunsicherte männliche Wähler aus ländlichen oder deindustrialisierten Regionen, liefen in Scharen zu den Republikanern über.

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Vergleichbar abschätzige Töne sind manchmal auch hierzulande zu vernehmen, wenn es um potenzielle Wähler*innen der AfD, um Pegida-Anhänger oder »Schwurbler« geht. Der Höhenflug der deutschen Rechtspopulisten ist sicher nicht nur ein hausgemachtes Problem der Ampelkoalition, auch wenn CDU-Chef Friedrich Merz das gebetsmühlenartig wiederholt. Dennoch zeigt der große Unmut über das »Heizungsgesetz«, was passiert, wenn die sozialen Folgen einer moralisch angetriebenen und auch so begründeten Politik vernachlässigt werden. Wer irgendwo in der Provinz in einem vielleicht geerbten, aber mangelhaft renovierten Haus lebt, ist damit zwar Immobilienbesitzer, verfügt deshalb aber noch lange nicht über die Mittel für eine Wärmepumpe.

Catherine Liu hat eigens ein Vorwort zur deutschen Ausgabe ihres Buches geschrieben, doch viele Details in ihrem Essay bleiben US-spezifisch und wirken etwas insiderhaft. Die Autorin findet immer wieder treffende Formulierungen, sie neigt aber auch zur steilen These – etwa, wenn sie der (in der Tat von Bürgerkindern dominierten) »Occupy Wall Street«- Bewegung kurzerhand eine Geistesverwandtschaft zum neoliberalen Denken unterstellt. Ihre scharfe (Selbst)Kritik der Linken und Linksliberalen kann man, wenn auch nicht eins zu eins, durchaus auf die urban-grün geprägte Klasse der »oberen zehn Prozent« in Deutschland übertragen. Liu fordert die globale PMC auf, sich endlich wieder an Prinzipien wie Gerechtigkeit und Solidarität zu orientieren. Sie will, wie von ihrem Favoriten Bernie Sanders einst propagiert, die soziale Frage ins Zentrum der Politik zurückholen. Weder bei der Demokratischen Partei in den Vereinigten Staaten noch bei den Grünen in Deutschland ist davon derzeit etwas zu erkennen.

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