Janine Wissler: Linke sollte sich nicht aneinander abarbeiten

Janine Wissler zur Kritik aus der Linken an deren Spitze, zu Personalien und innerparteilicher Demokratie und Debattenkultur

  • Interview: Jana Frielinghaus und Pauline Jäckels
  • Lesedauer: 9 Min.

Frau Wissler, ist die Partei Die Linke noch zu retten?

Die Linke hat eine starke Basis. Sie ist angetreten, um etwas zu bewegen und die Gesellschaft zu verändern. Wir müssen dafür sorgen, dass es linke Alternativen zur verheerenden Politik der Ampel und zum gefährlichen Erstarken der Rechten gibt. Die Linke ist im Moment in einer schwierigen Situation. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir da rauskommen können. Es gibt klare Mehrheiten für den aktuellen Kurs der Partei. Wir sollten uns an den politischen Gegnern und den gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten abarbeiten – nicht aneinander.

Die Ko-Fraktionsvorsitzende Amira Mohamed Ali hat ihren Rückzug von diesem Amt damit begründet, dass die Partei, insbesondere der Bundesvorstand, die Ampel-Politik nicht fundamental kritisiert. Ist dieser Vorwurf berechtigt?

Ich nehme diesen Rückzug mit Respekt zur Kenntnis, kann aber nicht erkennen, dass die Fraktion wie auch die Partei die Ampel mit Samthandschuhen angefasst hätten. Wir haben klare Positionen vertreten bei der Kindergrundsicherung, beim Haushalt, zur Aufrüstung und dem 100-Milliarden-Sondervermögen. In der Auseinandersetzung um die Asylrechtsreform waren wir die einzige Fraktion im Bundestag, die sie klar abgelehnt und die Ampel fundamental kritisiert hat. Dass wir damit zu wenig durchdringen, liegt zum Teil daran, dass öffentlich ausgetragene Differenzen die Partei zerstritten erscheinen lassen. Das überlagert unsere Kritik an der Regierung und schadet der Partei.

Und was ist mit den Vorwürfen zum Thema Friedenspolitik? Da gibt es in der Tat eine große Vielstimmigkeit in der Partei bis hin zur Unterstützung von Waffenlieferungen an die Ukraine. Vertritt hier der Vorstand eine klare Position im Einklang mit den Parteitagsbeschlüssen vom Juni 2022?

Interview

Janine Wissler ist seit Februar 2021 eine von zwei Vorsitzenden der Partei Die Linke und seit September 2021 Mitglied des Bundestages. Zuvor war die 42-Jährige zwölf Jahre lang Vorsitzende der Linksfraktion im hessischen Landtag gewesen.

Ja, natürlich. Es gibt zahlreiche Beschlüsse und öffentliche Stellungnahmen zum Thema Waffenlieferungen, zur Nato, zum 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr, in denen man das nachlesen kann. Gerade beim Thema Waffenlieferungen war der Parteivorstand immer völlig klar.

Ein zentraler Kritikpunkt betrifft den Umgang des Vorstands mit Sahra Wagenknecht. Mohamed Ali meint, die Parteispitze wolle nicht nur eine Trennung von Wagenknecht, sondern auch »einen Teil der Mitgliedschaft aus der Partei drängen«. Ist da was dran?

Im Gegenteil. Die Linke ist eine plurale Partei, in der viele verschiedene Strömungen Platz haben. Aber es gibt eine rote Linie, und die ist überschritten, wenn innerhalb der eigenen Partei angefangen wird, ein neues Parteiprojekt aufzubauen. Und weil wir konkrete Hinweise haben, dass das geschieht, musste der Vorstand ein Stoppschild aufstellen. Deshalb haben wir deutlich gesagt: Wer sich am Aufbau eines konkurrierenden Projekts beteiligt, der möge sein Mandat niederlegen. Damit sind genau die gemeint, die das tun, und nicht Mitglieder, die andere Positionen haben als der Vorstand. Mein Eindruck ist, dass es einigen wenigen gar nicht mehr um den gemeinsamen Erfolg geht. Wenn sich Einzelne die meiste Zeit nicht am politischen Gegner, sondern an der eigenen Partei abarbeiten, ihr öffentlich die Glaubwürdigkeit absprechen, selbst Falschbehauptungen in die Welt setzten, sich aber den innerparteilichen Debatten verweigern, dann hat man den Eindruck, dass da einige nicht mehr um die Partei, sondern nur noch gegen die Partei kämpfen.

Jetzt hat auch Dietmar Bartsch mitgeteilt, dass er nicht mehr als Fraktionsvorsitzender antreten wird. Was bedeutet das für die Fraktion und wann würden Sie als Parteispitze einen Personalvorschlag für die Fraktionsführung vorlegen?

Dietmar Bartsch hat jahrzehntelang Verantwortung in der PDS und später in der Linken getragen als Bundesschatzmeister und Bundesgeschäftsführer und er stand acht Jahre an der Spitze der Bundestagsfraktion. Dafür gilt ihm unser aller Dank. Er zieht sich zwar aus der allerersten Reihe zurück, hat aber deutlich gemacht, dass er weiterhin für eine geeinte und starke Linke kämpfen wird. Wir werden in den nächsten Tagen darüber beraten, wie eine Nachfolge aussehen kann.

Der Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann hat vorgeschlagen, Sahra Wagenknecht eine Spitzenkandidatur zur Europawahl 2024 anzubieten, um sie doch noch für Die Linke zurückzugewinnen. Was halten Sie davon?

Wagenknecht hat deutlich gesagt, sie werde nicht mehr für Die Linke kandidieren. Und, was die Europawahl angeht, haben wir als Parteivorsitzende einen Vorschlag für ein vierköpfiges Spitzenteam gemacht. Das ist ein Angebot an die Partei und an die Wählerinnen und Wähler: Martin Schirdewan als profilierter Europaabgeordneter, der für Umverteilung und die Entmachtung der großen Konzerne steht und eine laute Stimme für den Osten Deutschlands ist. Carola Rackete als Parteilose, die über die Seenotrettung bekannt geworden ist. Sie ist Klimaaktivistin und verbindet die Klassenfrage mit dem Kampf um Klimagerechtigkeit. Özlem Demirel ist Gewerkschafterin, Friedensaktivistin und hat sich als Europa-Abgeordnete bei der Durchsetzung des Europäischen Mindestlohns einen Namen gemacht. Und der Sozialmediziner Gerhard Trabert, der als »Arzt der Armen« bekannt wurde, der obdachlose Menschen und Menschen ohne Krankenversicherung versorgt und weltweit im Einsatz in Kriegs- und Krisengebieten war. Als Kandidat zur Bundestagswahl 2021 hat er das beste Erststimmenergebnis in Westdeutschland geholt und als Kandidat zur Wahl des Bundespräsidenten auch Stimmen aus anderen Parteien bekommen. Wir haben diese vier Personen vorgeschlagen, weil wir glauben, dass sie die Breite und die Vielfalt der Linken gut repräsentieren. Auf dieses Team wollen wir setzen.

Genau dieser Personalvorschlag zur Europawahl ist ja von Klaus Ernst und anderen scharf kritisiert worden, einerseits als undemokratisch …

Es ist nicht undemokratisch, wenn Vorsitzende einen Vorschlag machen. Wir sind ja auch nicht die ersten Vorsitzenden der Linken, die einen Vorschlag für Spitzenkandidaturen machen. Im Gegenteil, das gab es doch immer. Die damaligen Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine und Lothar Bisky haben den Vorschlag zur Europawahl 2009 gemacht, Bisky als Spitzenkandidaten aufzustellen. Es gab immer Vorschläge der Vorsitzenden für die Spitzenkandidatur zu den Bundestags- und Europawahlen. Man kann das natürlich kritisieren, aber man sollte nicht so tun, als wäre das neu. Und klar ist: Den Listenvorschlag in Gänze macht der Bundesausschuss, und am Ende entscheidet der Parteitag.

andererseits heißt es mit Blick auf Carola Rackete, ihre Aufstellung sei ein Affront sei gegen traditionelle Linke-Wähler und die Arbeiterklasse und dass man damit nur den enttäuschten Grünen-Wählern gefallen wolle.

Natürlich kann man unseren Vorschlag kritisieren. Aber die Art, wie das teilweise geschieht, finde ich unter aller Sau. Also zum Beispiel von »Wählerschreck« zu sprechen, ist auch gegenüber den Leistungen von Carola absolut respektlos. Sie hat als ehrenamtliche Kapitänin der Sea-Watch Menschen, die vor Armut und Krieg geflohen sind, vor dem Ertrinken gerettet – unter hohem persönlichen Risiko. Vorwürfe, sie würde zu denen gehören, die die Arbeitswelt nicht kennen, zeigen, dass einige offenbar überhaupt nichts über ihre Biografie wissen. Ihren Lebensunterhalt hat Carola jahrelang in der Seefahrt, auf Handelsschiffen und anderen Schiffen verdient. Das bedeutet, monatelang von zu Hause weg zu sein, Sieben-Tage-Woche, harte Arbeitsbedingungen, beengte Unterkünfte. Sie kennt die schwierigen Bedingungen und das Leben von Seeleuten, oft aus ärmeren Ländern, die ihre Familie ein halbes Jahr nicht sehen. Sie war in ihrem Leben schon deutlich näher an der Arbeiterklasse als manch ein anderer. Und sie denkt die Klassenfrage und die Klimafrage zusammen. Zudem finde ich, dass Menschen, die glauben, Carola schrecke Arbeiter ab, eine seltsame Vorstellung von der Arbeiterklasse offenbaren: als ob sich abhängig Beschäftigte ausschließlich für ihre persönliche soziale Situation und nicht für Klimaschutz, für Antirassismus und andere gesellschaftliche Themen interessieren würden. Das ist stigmatisierend und falsch, das zeigen Studien und Umfragen. Carolas Kandidatur ist auch eine Kampfansage gegen das Erstarken der Rechten in Europa. Dass sich die rechte italienische Regierung, Meloni und Salvini, öffentlich zu Carolas Kandidatur geäußert hat, zeigt, dass sie die Botschaft verstanden haben.

Wie ist die Resonanz auf den Vorschlag insgesamt?

Wir haben viel positive, auch begeisterte Resonanz bekommen. Aus der Partei, aber auch aus dem Umfeld, von Bündnispartnern und Leuten, die sich vorstellen können, uns zu wählen oder beizutreten. Die lauten Angriffe einiger weniger in den Medien verzerren das Bild. Insgesamt haben wir sehr, sehr viele positive Reaktionen bekommen.

Wo sieht der Bundesvorstand Potenziale für den Mitgliederaufbau und neue Wählerschichten? Und um wen wirbt er?

Wir sehen, dass sich Menschen von der Linken abgewandt haben, die finden, die Partei beschäftige sich zu viel mit sich selbst. Deshalb geht es zum einen darum, Menschen zurückzugewinnen, die uns mal gewählt haben. Deswegen gehen wir auch vermehrt in die Stadtviertel, in denen wir früher stärker waren, um das persönliche Gespräch mit den Menschen dort zu suchen. Wir wollen auch konkret eine Alternative für Menschen sein, die sich von der SPD sozialpolitisch etwas erhofft haben und jetzt merken, dass die Versprechen nicht gehalten werden. Und natürlich wollen wir zum anderen auch Menschen gewinnen, die sich für die Rechte Geflüchteter, für Klimaschutz und eine Verkehrswende engagieren und die sich von der Ampel mehr erhofft hatten. Die jetzt erleben, dass die Regierung bei der Verkehrswende völlig versagt und die ein Hau-ab-Gesetz vorgelegt hat, mit dem Menschen noch leichter und ohne Vorwarnung abgeschoben werden können.

Wegen der Parteikrise hat Sören Pellmann auch einen Parteikonvent gefordert und gerade präzisiert, dabei solle es sich um eine Tagung unter Beteiligung kritischer Basisvertreter handeln. Außerdem solle die noch vor der Fraktionsklausur Ende August stattfinden. Wird es eine solche Zusammenkunft geben? Und wenn ja: wann und wie?

Es ist sinnvoll, mehr Austausch zu haben, auch außerhalb der satzungsgemäßen Gremien. Deshalb machen wir regelmäßig Mitgliederzooms und haben in den letzten Monaten fünf Regionalkonferenzen organisiert, zu denen die gesamte Mitgliedschaft eingeladen war und wo Fragen der Außenpolitik und des sozial-ökologischen Umbaus mit Einleitungen aus verschiedenen Spektren der Partei durchaus kontrovers diskutiert wurden. Einen Konvent kennt unsere Satzung nicht, aber wir werden im Vorstand darüber beraten, wie wir die Idee aufgreifen können.

Was könnte so eine Versammlung inhaltlich leisten?

Es könnte darum gehen, sich über die aktuelle Situation auszutauschen und unter anderem auf Basis des vom Vorstand im Juni vorgelegten Plans 2025 für das Comeback einer starken Linken über anstehende Aufgaben und gemeinsames Handeln zu sprechen. Darin haben wir konkrete Schritte beschrieben, was die Mitgliedergewinnung, die organisierende Arbeit und was die politische Ausrichtung der Linken als soziale Kraft und als Klassenpartei angeht. Wir könnten besprechen, wie wir in den Herbst gehen, gegen den Kürzungshaushalt der Ampel-Koalition und die gebrochenen Versprechen von Klimageld und Kindergrundsicherung. Und wie wir die letzten sechs Wochen für den Endspurt der Wahlkämpfe in Bayern und Hessen vor den Landtagswahlen im Oktober nutzen.

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