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Virus kontra Bakterium
Phagen sind vielversprechend im Kampf gegen antibiotikaresistente Keime, aber noch ist die Anwendung weit entfernt
Eine traditionelle Behandlungsmethode gegen bakterielle Infektionen, die Phagentherapie, wird in Deutschland wiederentdeckt. Der Einsatz von Viren gegen Bakterien war im Westen durch den Antibiotika-Boom in Vergessenheit geraten. Anders in Osteuropa, wo Phagen seit Langem medizinisch eingesetzt und beforscht werden. Eine führende Position nimmt dabei das Hirszfeld-Institut für Immunologie und experimentelle Therapie der Polnischen Akademie der Wissenschaft in Wrocław (Breslau) ein, wo sich die größte Phagensammlung in Europa befindet.
Ein wissenschaftlicher Parlamentsbericht hat jetzt sowohl Mediziner als auch Gesundheitspolitiker hellhörig gemacht. Das Büro für Technikfolgenabschätzung im Deutschen Bundestag (TAB) hat im Auftrag der drei Ausschüsse für Forschung, Gesundheit und Landwirtschaft einen umfangreichen Bericht über »Bakteriophagen in Medizin, Land- und Lebensmittelwirtschaft«, so der Titel, verfasst und beleuchtet darin Anwendungsperspektiven sowie Innovations- und Regulierungsfragen, die politisch aufgegriffen werden sollten.
»Angesichts der großen Herausforderungen für die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt (One Health), vor allem durch Antibiotikaresistenzen, stellen Phagen eine relevante Option dar, deren Potenziale stärker erforscht und genutzt werden sollten«, lautet die zentrale Aussage des TAB-Reports, der im Herbst auch im Bundestag öffentlich diskutiert werden soll.
Phagen – auch als »Bakteriophagen« bezeichnet – sind Viren, die bestimmte Bakterien gezielt angreifen und zerstören können. Die Mikroorganismen gelten als die am häufigsten vorkommende biologische Einheit auf der Erde. Wie auch die Bakterien kommen Phagen in allen Lebensräumen vor, darunter in großer Zahl in Tieren und Menschen, besonders in deren Verdauungstrakt. Die Phagenviren wurden schon vor über 100 Jahren wissenschaftlich entdeckt und zur Bekämpfung bakterieller Infektionen eingesetzt. »In einigen Ländern der ehemaligen Sowjetunion oder Polen sind Phagen kontinuierlich als zugelassene Medikamente oder für personalisierte beziehungsweise experimentelle Behandlungen chronischer und antibiotikaresistenter Infektionen in der Humanmedizin eingesetzt worden«, stellt der TAB-Bericht fest. Im Gegensatz dazu seien Phagen in den westlichen Industrieländern seit den 1940er Jahren nach dem Verfügbarwerden von Antibiotika lange Zeit kaum noch medizinisch genutzt worden.
Im Zuge der sich verbreitenden Antibiotikaresistenz könnten sich Phagen als »Retter in der Not« erweisen. Das Problem bereitet den Medizinern Sorgen: Allein in Deutschland starben im Jahr 2019 mehr als 45 000 Menschen im Zusammenhang mit antibiotikaresistenten Infektionen. »Phagen haben ganz klar ein großes Potenzial in der Behandlung von antibiotikaresistenten Krankheitserregern«, urteilt Julia Frunzke, Leiterin der Arbeitsgruppe Bakterielle Netzwerke und Interaktionen am Institut für Bio- und Geowissenschaften, Forschungszentrum Jülich. Dies gelte sowohl »als personalisierte Medizin in Kombination mit Antibiotika, aber auch als Selektionsdruck, um Krankheitserreger wieder für eine Antibiotikatherapie zugänglich zu machen«, so die Naturwissenschaftlerin, die auch Professorin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ist. Ein besonderer Pluspunkt der Phagentherapie ist für Frunzke die hohe Verträglichkeit. »Da kam es bislang nach meinem Kenntnisstand zu keinen nennenswerten Nebenwirkungen.«
Für Gerd Fätkenheuer, Leiter der Infektiologie an der Uniklinik Köln, fehlt es derzeit an aussagefähigen klinischen Studien zum Einsatz von Phagen. »Ohne solche Studien ist es für mich nicht vorstellbar, dass es zu einer breiten Anwendung kommen kann«, sagt der Mediziner in einer Kommentierung der TAB-Studie. Ein zentrales Problem sieht er darin, »dass es keine Standardisierung der Therapie gibt, wie das üblicherweise bei Medikamenten der Fall ist«. Denn die Phagentherapie muss genau auf die Bakterien zugeschnitten sein, die bei einem Patienten eine Infektion auslösen. »Da es sich um Bakterien mit verschiedenen Eigenschaften handeln kann, wird man dafür in der Regel einen Cocktail von verschiedenen Phagen benötigen, die sehr schnell verfügbar sein müssen«, gibt Fätkenheuer zu bedenken. Diese Variabilität und Nicht-Standardisierbarkeit ist auch ein zentraler Grund dafür, warum die Pharmaindustrie eher einen Bogen um die Bakteriophagen macht. Zu viel Aufwand für zu kleine Dosen.
Kurz hinter der deutschen Grenze zu Polen, in Wrocław, gibt es diese Erfahrung, die in Deutschland fehlt. Dort haben sich Ärzte um Professor Andrzej Gorski am Ludwik-Hirszfeld-Institut seit Jahren auf die Phagentherapie spezialisiert. Seit 1980 wurden bereits mehr als 1500 Patienten, die sich mit antibiotikaresistenten Keimen infiziert hatten, mit Bakteriophagen behandelt. Mit angeblich großem Erfolg, wie es hieß, denn mehr als 80 Prozent der sonst antibiotikaresistenten Keime (der Gattungen Staphylococcus und Pseudomonas) sollen nach Angaben der Ärzte für die Phagentherapie empfindlich gewesen sein. Behandelt wurden unter anderem Erkrankungen wie Infektionen nach Operationen, Bronchitis, Asthma, Lungenentzündungen, Hautabszesse, Verbrennungen und chronische Harnwegsinfekte.
Neuere Studien, von denen Gorski bei einem Besuch von deutschen Wissenschaftsjournalisten in seinem Institut berichtete, stufen die Erfolgsquote allerdings deutlich herunter. Danach seien lediglich bei 18 Prozent der Patienten deutliche Besserungen festgestellt worden, bei weiteren 22 Prozent habe es immerhin keine Verschlechterung gegeben. Hier zeigt sich in der Tat der Bedarf an weiterer klinischer Forschung. Hierzu bemerkt die TAB-Studie, dass die in Osteuropa durchgeführten Wirkungsstudien »nicht die Kriterien von randomisierten, verblindeten und mit Placebo- oder Standardbehandlungen vergleichenden klinischen Studien erfüllen«, die für den Nachweis der Wirksamkeit und die Marktzulassung von Medikamenten und Behandlungen in der EU oder den USA gefordert werden.
»Wir haben auf unserem Gebiet eine international führende Position und Anerkennung erreicht«, ist jedenfalls Institutsleiter Andrzej Gorski überzeugt. Seine Abteilung für Phagentherapie besteht aus einem Labor für die Molekularbiologie der Phagen, geleitet von Krystyna Dąbrowska, und der Therapieeinheit des Medizinischen Zentrums unter Leitung von Ryszard Międzybrodzki.
Die Akademie experimentiert seit 1954 an Phagen. Das war aber keineswegs der Startpunkt, denn erste erfolgreiche Behandlungen soll es bereits im Jahr 1926 am Krakauer Universitätsklinikum gegeben haben.
In Wrocław reichen die Proben unterschiedlicher Phagenvarianten – inzwischen 872 an der Zahl – bis ins Jahr 1948 zurück. »Das ist die größte Sammlung in Europa, nur in Kanada gibt es eine noch größere«, berichtet Beata Weber-Dąbrowska. Die Stämme sind spezialisiert auf Erreger der Gattungen Staphylococcus, Escherichia, Klebsiella, Enterobacter, Proteus und Pseudomonas.
Besonders stolz ist man in Wrocław, ab dem kommenden Jahr an einer größeren Studie des EU-Forschungsprogramms teilnehmen zu können. Es geht um eine Phagentherapie gegen Nasennebenhöhlen- und Schleimhautentzündungen (Rhinosinusitis). Die Untersuchung findet an 100 Patienten statt und ist mit 3,5 Millionen Euro aus Brüssel finanziert.
Nicht nur für die Medizin, sondern auch für die Landwirtschaft und die verarbeitende Lebensmittelindustrie sind Phagen von potenziellem Interesse. In der Nutztierhaltung könnten Phagenpräparate laut TAB-Studie »nicht nur als Tierarzneimittel, sondern auch als Futtermittelzusätze eingesetzt werden«. Auf diese Weise würde die Kontamination der aus den Tieren gewonnenen Lebensmittel mit Krankheitserregern verringert werden. Schon jetzt werden – allerdings außerhalb der EU – einige Bakteriophagenpräparate für die wichtigsten landwirtschaftlichen Nutztierarten Schwein, Huhn, Rind sowie in Aquakulturen vermarktet.
Im Pflanzenbau ist das Einsatzspektrum von Phagen eher gering. Hier wird der überwiegende Teil von Pflanzenschutzmitteln gegen Insekten, Pilze und Unkräuter eingesetzt. Möglichkeiten gibt es aber bei bestimmten Pflanzenarten, die besonders stark von bakteriellen Krankheitserregern befallen und geschädigt werden, vor allem Obstbäume. »Um die befallenen Pflanzen erhalten zu können, stehen nur Kupfer und Antibiotika zur Verfügung, die beide ökologisch sehr problematisch sind und deren Einsatz stark reglementiert ist«, stellt die Studie die Chance für den »grünen« Phageneinsatz dar. Ähnlich wie in der Tiermedizin gebe es nur sehr wenige bereits kommerzialisierte oder in Entwicklung befindliche Phagenpräparate zur Bekämpfung bakteriell bedingter Pflanzenkrankheiten.
Wie schnell kommt nun der Phagen-Boom? Unter den derzeitigen Rahmenbedingungen, so die Einschätzung der wissenschaftlichen Parlamentsberater, zu denen auch Naturwissenschaftler des Karlsruhe Institut für Technologie (KIT) gehören, sei es »unwahrscheinlich, dass sich der Einsatz von Phagen für therapeutische Zwecke in der Medizin oder für Anwendungen in der Land- und Lebensmittelwirtschaft in der EU oder in Deutschland besser als bisher oder in größerem Umfang etablieren wird«. Bis es dazu komme, müssten viele Rechtsverordnungen geändert und »ökonomische Anreizstrukturen«, etwa für die Pharmaindustrie, geschaffen werden.
Die Industrie ist – in kleinem Maßstab – schon dabei, aber nicht in Europa. So vermerkt die TAB-Studie, dass »eine Reihe neuer klinischer Studien, darunter erste Studien unter Verwendung personalisierter, auf die Erreger der Patient/innen speziell zugeschnittener Phagencocktails sowie genetisch veränderter (aufgerüsteter) Phagen« seit 2021 laufen. Diese Studien würden in der Mehrzahl von biotechnologischen Unternehmen, auch aus Europa, verantwortet – allerdings nur in den USA durchgeführt. Auch dies – die Rahmenbedingungen für die Gentechnik in Europa und Deutschland – zählt zur Diskussionsagenda der Politik, um die Phagennutzung hierzulande zu verbessern.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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