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Luis Rubiales: Ein Übergriff, kein »Kuss-Skandal«
Die Mechanismen in patriarchalen Verhältnissen schützen übergriffige Menschen wie Luis Rubiales und beschuldigen die Opfer
Ich frage mich, wieso deutsche Medien unfähig sind, das Wort »Übergriff« zu verwenden. Selbst, wenn vor den Augen der Welt ein Mann (der Präsident des spanischen Fußballverbandes RFEF Luis Rubiales) eine Frau (die Fußballspielerin und Weltmeisterin Jennifer Hermoso) gegen ihren Willen am Kopf packt und sie küsst, wird das nicht als Übergriff benannt. Stattdessen: »Kuss-Skandal«, »Kuss-Eklat«, »Kuss-Affäre«. Diese Wortschöpfungen beziehen sich nämlich nicht auf das, was passiert ist – ein Übergriff –, sondern auf das, was danach geschehen ist. Nämlich: Die Betroffene hat es gewagt, zu kritisieren, dass der Kuss ohne ihr Einverständnis erfolgt ist. All diese Worte zeigen, dass wir als Gesellschaft es dramatischer finden, dass der Übergriff skandalisiert wird, als den Übergriff selbst.
Und was danach seitens Rubiales passiert ist, ist von einer so abgrundtiefen Peinlichkeit, dass dies eigentlich als Skandal betitelt werden sollte. Denn der inzwischen suspendierte RFEF-Präsident tat das, was fast alle Täter tun, die Konsequenzen erfahren. Nämlich sich als Opfer einer gemeinen feministischen Kampagne inszenieren. Nachdem die Fifa Rubiales für 90 Tage suspendiert und die RFEF ihn nach vehementer Kritik spanischer Fußballspieler*innen zum Rücktritt aufgefordert hatte, eilte die Mutter dieses erwachsenen Mannes flugs zu seiner Verteidigung. Sie sperrt sich in einer Kirche ein und tritt in einen Hungerstreik, bis ihrem Baby »Gerechtigkeit widerfährt«. Viele Fußballfans, darunter auch der deutsche Fußball-Funktionär Karl-Heinz Rummenigge, verteidigen den erzwungenen Kuss als »im Fußball halt normal, unter Männern macht man das im ganzen Überschwang doch auch«, und vielleicht hätte es die Spielerin auch gewollt. Letzteres ist auch das Statement des Täters selbst, der sich damit des All-Time-Klassikers des Victim Blamings bedient. Das Ganze blendet aus: Bei diesem Übergriff handelt es sich um einen Ausdruck patriarchalen Anspruchsdenkens.
Veronika Kracher, geboren 1990, hat Soziologie und Literatur studiert und ist seit 2015 regelmäßig als Autorin und Referentin mit den Arbeitsschwerpunkten Antifeminismus, Rechtsextremismus und Online-Radikalisierung tätig. Zudem ist sie Expertin für belastende Männer im Internet. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Jenseits des Patriarchats«.
Integraler Bestandteil des Patriarchats ist es, von klein auf vermittelt zu bekommen, ein Anrecht zu haben – auf gesellschaftliche Vorherrschaft, als auch auf das, was die Philosophin Kate Manne als »weiblich codierte Güter« bezeichnet. Also: Zuneigung, Reproduktionsarbeit, Aufmerksamkeit und letztendlich immer den weiblichen Leib. Dies ist für viele cis Männer selbstverständlich: Sie erfahren aufgrund ihres Geschlechts, im Gegensatz zu Frauen und trans Menschen, kaum Einschränkungen. Und falls sie diese Erfahrungen machen, stellt dies einen eklatanten Bruch mit ihrer bisherigen Lebensrealität und Identität dar, in der die scheinbare Selbstverständlichkeit dieses Anspruchsdenken einen zentralen Platz einnimmt. Das wohl bekannteste Beispiel: Wie reagieren Männer, wenn man ihnen direkt ins Gesicht sagt, man habe kein Interesse an ihnen? Selten sonderlich gelassen. Männer wie Rubiales wollen nicht akzeptieren, dass der begangene Übergriff falsch ist – weil sie ihr vermeintliches Recht, einen solchen begehen zu können, als wichtiger erachten als das Anrecht auf körperliche Autonomie ihrer Opfer. Vor allem bitter ist: Jennifer Hermoso wurde einer der wichtigsten Momente ihrer Karriere als Sportlerin entrissen. Sie ist für viele nicht mehr eine Fußball-Weltmeisterin, sondern die Frau mit dem »Kuss-Skandal«. In ihrem Statement schreibt sie, dass sie ihren Sieg und ihr Team feiern wollte und stattdessen Rubiales sich ihres Körpers bemächtigt und ihr die verdiente Freude über diesen Moment genommen hat.
Ein gängiger Vorwurf an Opfer sexueller Gewalt ist: Sie würden das doch alles erfinden, sie hätten keine Beweise. Auf Jennifer Hermoso waren alle Kameras der Welt gerichtet, als sie gegen ihren Willen geküsst wurde. Und trotzdem wird ihr Täter verteidigt und geschützt. Denn in patriarchalen Verhältnissen ist nach wie vor weniger der Übergriff das Problem, sondern dass er als solcher skandalisiert wird.
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