In der Türkei befinden sich Geflüchtete in Limbo

Griechenland hat die Türkei als sicheren Drittstaat für bestimmte Geflüchtete eingestuft. Diese Menschen bekommen kein Asyl in der EU – und die Türkei nimmt sie nicht auf

  • Cyrus Salimi-Asl und Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 7 Min.

Vor sieben Jahren hat die Europäische Union ein Migrationsabkommen mit der Türkei geschlossen. Es sah vor, dass Griechenland Asylsuchende insbesondere aus Syrien, die – im EU-Sprech »irregulär« – von der Türkei auf die nahen griechischen Inseln, darunter Samos und Lesbos, geflohen waren, direkt wieder zurückführen konnte. Für jede abgeschobene Person sollte ein anderer syrischer Flüchtling aus der Türkei in einem EU-Land angesiedelt werden. Die Idee war es, den Geflüchteten zu signalisieren: Es lohnt sich nicht, die gefährliche Route über die Ägäis anzutreten. Im Gegenzug bekam die Türkei sechs Milliarden Euro.

Im Juni 2021 hat Griechenland eine Ministerialentscheidung veröffentlicht, nach der die Türkei als sicherer Drittstaat für Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Somalia und Bangladesch gilt. Das führte dazu, dass Griechenland Asylanträge dieser Staatsangehörigen als unzulässig ablehnt, wenn sie über die Türkei eingereist sind. Diese Einstufung wird von anderen EU-Mitgliedstaaten offiziell nicht geteilt, das ist aber auch nicht nötig, weil die meisten Schutzsuchenden ohnehin von der Türkei zunächst nach Griechenland fliehen. Die Europäische Kommission als Hüterin der Verträge hat kein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.

Gemäß einer EU-Richtlinie können die Mitgliedsstaaten selbst bestimmen, welche Drittstaaten sie als »sicher« einstufen. Prinzipiell müssen sie sich dabei an die dort festgelegten Bedingungen halten, etwa dass der Schutz suchenden Person dort keine Gefährdung von Leben und Freiheit aus Gründen der Rasse, der Religion oder der politischen Überzeugung droht, der Grundsatz der Nicht-Zurückweisung nach der Genfer Flüchtlingskonvention gewahrt wird und die Möglichkeit besteht, einen Asylantrag zu stellen und als Flüchtling Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention zu erhalten. Außerdem muss der Staat die Genfer Flüchtlingskonvention ohne geografischen Vorbehalt sowie die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert haben und über ein gesetzlich festgelegtes Asylverfahren verfügen.

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Das alles ist in der Türkei nicht der Fall. Zwar hat das Land mit vier Millionen die meisten Flüchtlinge weltweit aufgenommen. Doch drohen etwa kurdischen Geflüchteten mit syrischer Staatsbürgerschaft massive Repressionen. Der Präsident Recep Tayyip Erdoğan plant schon seit längerer Zeit, Syrer*innen zurück in das Bürgerkriegsland umzusiedeln. Die Freiwilligkeit dieses Programms ist schwer zu kontrollieren. Und ein Flüchtlingsschutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention ist nicht gegeben – das Land hat das Abkommen unter geografischem Vorbehalt ratifiziert und wendet es nur auf Menschen an, die aus der EU fliehen. Dazu kommt, dass die Türkei seit 2022 die Flüchtlinge, für die sich Griechenland als nicht zuständig erklärt, gar nicht mehr aufnimmt.

Eine neue Untersuchung über die Bedingungen für Flüchtlinge in der Türkei zeichnet ein klares Bild der Situation: Die Türkei ist kein sicherer Drittstaat, in den man Schutzsuchende einfach so abschieben könnte, ohne dass ihnen dort Gefahren drohten. Die Hilfsorganisation Medico International hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, das die zahlreichen Verstöße gegen grundlegende Menschenrechte von Flüchtlingen thematisiert. Dafür hat die Anwältin Annina Mullis von den European Lawyers for Democracy and Human Rights (ELDH) zusammen mit lokalen Expert*innen die Situation von Geflüchteten in der Türkei mittels Interviews, Einzelfallanalysen und Recherchen analysiert. Das Ergebnis ist eindeutig: »Die faktische Situation vor Ort entspricht nicht den juristischen Voraussetzungen«, sagt Annina Mullis dem »nd«, um die Türkei als sicheren Drittstaat einzustufen. Dafür gibt es verschiedene Gründe.

Ganz wesentlich ist der Zugang zur Registrierung als Flüchtling, um überhaupt einen Asylantrag stellen zu können. Mullis spricht von einer »Schlüsselherausforderung«, die in der Türkei stark eingeschränkt oder gar nicht gegeben sei. Im Gutachten heißt es hierzu: »Als Haupthindernis für die Erlangung von Schutz in der Türkei hoben die für dieses Gutachten befragten Personen einhellig den eingeschränkten Zugang zur Registrierung hervor.« 2018 habe die Migrationsbehörde de facto die Registrierung von neu ankommenden Syrern in neun Provinzen, darunter Großstädte wie Istanbul, gestoppt.

Darauf hatte seinerzeit schon die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hingewiesen. Und seitdem sei die Anzahl der Städte, in denen eine Registrierung als Flüchtling möglich war, sogar noch weiter reduziert worden, heißt es im Gutachten weiter. Das bedeutet, die Menschen, die Schutz suchend in der Türkei stranden, müssen erst einmal eine Stadt aufsuchen, wo sie überhaupt registriert werden können, und häufig werden sie dabei von einer Behörde zur anderen weitergeschickt.

Die syrischen Flüchtlinge müssen ihre Asylanträge seit Juni 2022 in sogenannten Übergangsunterkunftszentren stellen, die entlang der türkisch-syrischen Grenze errichtet wurden, berichtet Annina Mullis dem »nd«. Nach den schweren Erdbeben seien die Flüchtlinge rausgeworfen worden, um dort Erdbebenopfern Platz zu machen. Asylrechts-NGOs würden berichten, dass es nun völlig unklar sei, wo die geflüchtete Syrer*innen überhaupt einen Antrag stellen können.

Sollten Schutzsuchende es schaffen, sich als Flüchtlinge registrieren zu lassen und einen internationalen oder temporären Schutzstatus erhalten, bietet dieser nur unzureichende Rechte und ist nicht zu vergleichen mit dem Rechtsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Aber vor allem bleibt ihre Lebenssituation weiterhin prekär. Die Autoren des Gutachtens beklagen, dass Flüchtlinge keine oder nur eine unzureichende Unterkunft zur Verfügung gestellt bekämen und dass es schwer für sie sei, einen Arzt zu konsultieren. So haben die Behörden 2021 den Zugang zu medizinischer Versorgung für syrische Flüchtlinge suspendiert, berichtete die Nachrichtenwebseite Al-Monitor, sodass sie Arztbesuche selbst zahlen mussten.

Hinzu kommt die zunehmend feindselige Haltung der türkischen Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen. Der Wahlkampf um das Präsidentenamt im Mai wurde zu einem Überbietungswettbewerb in Sachen Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu versuchte, Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan noch rechts zu überholen: Die Geflüchteten könnten »zu einer Verbrechensmaschine werden«, so Kılıçdaroğlu. Er versprach, alle Flüchtlinge gleich nach der Wahl zurückzubefördern, und appellierte an die Wähler: »Lasst diejenigen, die ihr Heimatland lieben, zur Wahlurne gehen, bevor die ankommenden Flüchtlinge das Leben unserer Mädchen völlig verdunkeln«, schrieb er auf Twitter.

Die Anzahl registrierter Asylgesuche ist zwischen 2018 (114 000) und 2021 (29 000) um 75 Prozent zurückgegangen. Im laufenden Jahr sind laut türkischer Migrationsbehörde bis zum Stichtag 15. Juni über 112 000 Einreisen abgewiesen worden. Anwältin Annina Mullis vermutet, dass sich hinter dieser Zahl auch illegale Pushbacks verstecken. Sie weiß auch von Fällen, bei denen Geflüchtete unter Zwang oder Verschleierung der tatsächlichen Absicht in die Herkunftsländer abgeschoben werden. So sei im Juni 2018 ein junger Syrer mit temporärem Schutz von der griechischen Grenze in die Provinz Hatay im Südosten der Türkei gebracht worden und musste ein Dokument über seine »freiwillige« Rückkehr unterzeichnen.

Abschiebung ist gängige Praxis der türkischen Behörden. Bis 15. Juni 2023 seien 45 000 Menschen aus der Türkei abgeschoben worden, darunter 14 000 Afghan*innen, obwohl Afghanistan nicht als sicheres Land anzusehen ist. Aber das schert die Türkei nicht – so wie die EU sich nicht um die Bedingungen der Flüchtlinge in der Türkei schert, um das Land als vermeintlich sicheren Drittstaat anzusehen. »Das ist eine politische Einstufung«, sagt Mullis, »juristisch lässt sich das nicht begründen«. Es gehe um Flüchtlingsabwehr und darum, den Zugang zum Asylverfahren in einem europäischen Land möglichst zu erschweren. Das Gutachten könne Anwält*innen als Grundlage dienen, um in konkreten Rechtsfällen damit zu argumentieren. »Ich hoffe zudem, dass es zivilgesellschaftliche Organisationen für ihre politische Arbeit aufgreifen werden«, so Annina Mullis.

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