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Roman über die Klimabewegung: Im Schnelldurchlauf zur Utopie
Der Roman »Wut« von Raphael Thelen zeigt, was die Klimabewegung antreibt – leider sehr verkürzt
»Gewalt ist kein Weg«, legt die Mutter ihrer Tochter Vallie ans Herz. Es folgt eine Diskussion, die seit eineinhalb Jahren rund um die Straßenblockaden der Letzten Generation geführt wird: der RAF-Vergleich, Gewalt sei eigentlich, »wenn ein deutscher Konzern in Argentinien eine Mine gräbt« oder wenn die Eltern das Flugzeug nach Barbados nähmen, sagt Vallie. Nach zwei Buchseiten scheinen Mutter und Tochter komplett entzweit.
Es geht alles ein wenig schnell in dem neuen Roman »Wut« von Raphael Thelen. Der frühere Journalist gab seinen Beruf Anfang dieses Jahres auf, um sich der Letzten Generation anzuschließen. In seinem Debütroman versucht er nun darzustellen, wie die »Generation Klima« tickt und vor allem fühlt. Welche Rolle Wut für die sogenannte Radikalisierung von Protest spielt – und warum diese Wut so wichtig ist.
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Das Thema ist komplex, doch das Buch mit knapp 170 groß bedruckten Seiten recht kurz, und so überzeugt der Versuch nur mäßig. Man lernt die Protagonist*innen nicht gut genug kennen, um wirklich nachvollziehen zu können, warum etwa Vallie beim ersten Besuch eines Tagebaus ihren gesamten Lebensentwurf in Frage stellt. Oder warum sich der Antifaschist Robert nach einer unerfreulichen Begegnung auf einer Balkantour plötzlich eine Waffe wünscht und sich einer Nazi-Bande anschließt.
Solche oft existenziellen Erlebnisse von Ich-Erzählerin Vallie und ihren Freund*innen sind als Rückblenden in die Rahmenhandlung eingebettet. Die beginnt mit einer Latsch-Demo durch Berlin gegen den fiktiven Konzern DE (Deutsche Energie) und wird schnell zu einem Schweinsgalopp durch die Ereignisse. Auch die Hauptfiguren sind über Kapitel hinweg am Rennen. Sie, die Fridays-for-Future-mäßige Bilderbuchkarrieren mit Talkshow-Auftritten und Klagen gegen Konzerne hinter sich haben, beschließen nun zu »eskalieren« und die DE-Zentrale zu stürmen.
Vallie und Wassim laufen mit über 100 Mitstreiter*innen bis ins oberste Stockwerk des Büroturms und batteln sich dort mit der verhassten DE-Chefin. Derweil führt Sara draußen eine »rennende Demo« durch den ganzen Bezirk an, die Polizei immer dicht auf den Fersen, bis die Teilnehmenden schließlich eine Pipeline-Baustelle besetzen.
Was man von den Protagonist*innen erfährt, wirkt realitätsfern und klischeebehaftet. Während die echte Klimabewegung immer wieder dafür kritisiert wird, weiß, akademisch und privilegiert zu sein, sind zwei der vier Hauptfiguren in »Wut« von Rassismus betroffen. Saras Mutter ist nicht nur Migrantin, sondern auch noch alleinerziehend, in einem Haus, vor dem sich Spritzen und Kondome türmen. Für den größtmöglichen Klassenunterschied kann Vallie offenbar nicht einfach nur behütet aufgewachsen, sondern muss als Kind auch noch zum Leistungsturnen gezwungen worden sein. Heute sind Vallie und Sara ein queeres Paar, das vor allem den Aktivismus-Burnout teilt.
Darüber hinaus kommen die Figuren mit sämtlichen Umweltkatastrophen in Berührung, die nur möglich sind. Das Kind einer Cousine von Sara stirbt eine Woche nach der Geburt aufgrund von Lithium-Abbau und Chemikalienverschmutzung in der argentinischen Heimat. Lisas Neffe ertrinkt bei einem Jahrhundertregen im Auto. Selbst bei einem Ausflug zum See erlebt Vallie erst, wie ein Mann einen Hitzschlag erleidet, und entdeckt dann auch noch Faulgase im See. Der Landwehrkanal ist natürlich längst ausgetrocknet.
Ähnlich überladen sind die Dialoge. Nach Vallies Grundsatzdebatte über Gewalt mit ihrer Mutter ruft der Innensenator an und kommt von der Bitte, die Aktion zu beenden, im null Komma nichts zur Gewaltandrohung: »Und wer weiß, welche neuen Mitglieder eurer Bewegung dann auf einmal V-Leute sind und mit wem die Liebesbeziehungen eingehen, um euch auszuhorchen.« Als wäre das noch nicht genug, diskutiert Vallie als nächstes mit Sara die Frage, die aktuell die ganze Klimabewegung spaltet – brav demonstrieren oder endlich eskalieren – bloß auf deren Beziehung bezogen. All das natürlich, während draußen die Straßenschlacht tobt.
Nicht viel glaubwürdiger klingt die Verkettung von Ereignissen, die vom klimakrisenbedingten Sturm zu Explosionen von Öltanks im Kraftwerk Reuter West führt. Noch unrealistischer: Danach wird plötzlich alles gut. Menschen kündigen in Massen ihre Jobs, steigen aus dem System aus, gehen in Therapie, werden gesund, interessieren sich nicht mehr für Konsum und soziale Medien und machen nur noch, worauf sie Lust haben. »Die Wirtschaft begann unterdessen abzukacken.« Das hatte ja nicht mal Corona geschafft.
Zufällig erfüllt die Politik als nächstes die Forderungen der Letzten Generation. Viele Aktivist*innen kommen zwar erst mal ins Gefängnis, aber immerhin wird anschließend gefeiert. »Wir fragten die Ärmsten und Schwächsten, was sie zum Leben brauchen, um frei zu leben und zu lieben, denn wenn sie es konnten, würden wir es alle können.« Am Ende siegt also die verkitschte und verkürzte Version einer Utopie, die sich viele Aktivist*innen sicher wünschen: »Der Glaube ans Gute, an ein besseres Morgen, ans Beste im Menschen blüht auf.« Dass es so schnell geht, dürften aber selbst die optimistischsten unter ihnen nicht glauben.
Die Idee von »Wut« ist gut und hätte auf der vorhandenen Länge einen interessanten Essay abgegeben. Um aber als Roman zu funktionieren, müsste die Masse an Ereignissen und Rückblenden viel ausgedehnter erzählt werden. Man müsste die Protagonist*innen richtig kennen lernen, sie zum Tagebau oder zur Turnstunde begleiten. Dabei sein, wenn sie ihre erste Demo organisieren, sich untereinander näher kommen und eher noch ein paar Jahrzente um das gute Leben für alle kämpfen. All das wird im Schnelldurchlauf nur angerissen, und so bleiben die Figuren und ihre Geschichten leider unglaubwürdig.
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