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Geschichte der radikalen Linken: Theorie als Bewegung
Der Historiker Benedikt Sepp rekonstruiert die Neue Linke im Westberlin der 1960er und 70er Jahre am »Prinzip Bewegung«
Ein schon abgegriffenes Bonmot besagt, dass es – auch für viele Linke – heute einfacher sei, sich das Ende der Menschheit als ein Ende des Kapitalismus vorzustellen. Dabei ist es noch nicht einmal 50 Jahre her, dass Menschen überall auf der Welt der Überzeugung waren, eine nichtkapitalistische Gesellschaft innerhalb weniger Jahre erkämpfen zu können. In den 1960er und 70er Jahren herrschte in Teilen der Bevölkerung nahezu sozialrevolutionäre Stimmung. Lässt sich aus dieser Zeit etwas gegen die heutige Apathie der Linken lernen?
In diese Phase führt der Münchner Historiker Benedikt Sepp mit seinen kürzlich im Wallstein-Verlag erschienenen Buch »Prinzip Bewegung«, das er über »Theorie, Praxis und Radikalisierung in der West-Berliner Linken 1961–1972« geschrieben hat. Tatsächlich liefert Sepp damit auch eine Geschichte der Neuen Linken insgesamt, weil Westberlin in Hinsicht auf die Entwicklung der Linken eben genau keine Insel war.
Aufbruch durch Theorie
Erfreulicherweise gibt Sepp in seiner Rekonstruktion der oft zu wenig beachteten Vorgeschichte des gesellschaftlichen Aufbruchs von 1968 viel Raum. Er lässt seine Arbeit mit dem Ausschluss des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) aus der SPD 1961 beginnen. Dabei hätte damals kaum jemand darauf gewettet, dass der dann parteilose Studierendenverband wenige Jahre später Geschichte schreiben sollte. »Die plötzliche Eigenständigkeit des SDS barg große Gefahren: zuallererst natürlich in finanzieller und infrastruktureller Hinsicht, aber auch organisatorisch ging es um die schiere Existenz«, beschreibt der Historiker die Sorgen der SDS-Aktivist*innen nach dem Unvereinbarkeitsbeschluss. Finanzen brachen weg und auch die Aktionsmöglichkeiten wurden mit der Trennung von der SPD massiv eingeschränkt. In dieser Zeit bekam die theoretische Auseinandersetzung bei vielen SDS-Mitgliedern einen neuen Stellenwert.
Sepp zeigt, wie sich die Vordenker*innen des SDS einig waren, »dass ihre Praxis zunächst aus Theorie bestehen müsse«. Für sie lag hier der Schlüssel zur Gewinnung neuer Mitglieder. Sehr detailliert arbeitet Sepp heraus, wie diese Theoriearbeit auf einem Delegiertenkongress des SDS von einem dafür konstituierten Wissenschaftsreferat vorangetrieben wurde. Neben dem Studium von Schriften der Frankfurter Schule gehörten auch Texte über Sozialismus und Kybernetik zum exakt ausgearbeiteten Plan der Theoriegruppen. Doch bald stellte sich den nun theoretisch geschulten Akademiker*innen die Frage der praktischen Perspektive ihrer Arbeit. »Spätestens Ende 1964 beschlich die Führungsriege des SDS der Eindruck, dass die praktizierte Art der Theoriearbeit in die Sackgasse führte«, beschreibt Sepp das Dilemma der Kader ohne Anbindung an eine Bewegung.
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Dass der SDS dann von der Theorie zur Praxis schritt, war auch dem Beitritt bewegungsorientierter SDS-Mitglieder um Rudi Dutschke und Bernd Rabehl geschuldet, die vor allem durch subversiven Aktivismus aufgefallen waren und von der Theoriefraktion höchstens belächelt wurden. Dies änderte sich, als die frühen Spontis den Machtanspruch der Theoretiker in der Organisation des Berliner SDS in Frage stellten. Sepp zeichnet ein ausführliches Bild dieses durchaus auch mit harten Bandagen geführten Machtkampfs. Er beleuchtet darin ebenso, dass auch die Aktionsorientierten sehr unterschiedliche Konzepte verfolgten. Einige orientierten sich vor allem an der Neuen Linken in den USA, die in den 1960er Jahren dort zur Massenbewegung wurde, einflussreicher wurde schließlich aber die stark von den französischen Situationist*innen beeinflusste Gruppe Spur. Diese formierte sich als antiautoritäre Fraktion und machte den Altfunktionär*innen mit SPD-Vergangenheit erfolgreich die Macht im SDS streitig, nur um wenige Jahre später selbst von Jüngeren angegriffen zu werden, weil sie angeblich der Bewegung nur hinterherliefen.
Auflösung und Zersplitterung
Denn mittlerweile hatte sich die Außerparlamentarische Opposition (APO) in der BRD wie in Westberlin ganz ohne die Steuerung des SDS entwickelt. Die Hochphase der Bewegung folgte auf den 2. Juni 1967 und den Polizeischüssen auf Benno Ohnesorg. Ein Jahr später geriet der SDS erneut in die Krise und löste sich 1970 endgültig auf. Die Modalitäten der Auflösung wurden bei der Beerdigung des bei einem Autounfall gestorbenen Hans-Jürgen Krahl besprochen, bei der die mittlerweile zerstrittenen SDS-Aktivist*innen noch einmal zusammenkamen. Kurz danach bekämpften sich viele dieser Aktivist*innen in unterschiedlichen kommunistischen Kleinstparteien teilweise erbittert, die später unter dem Sammelbegriff K-Gruppen subsumiert wurden. »Spätestens gegen Ende 1969 war der Druck, theoretische Ambivalenzen aufzugeben und sich in einer der zahlreichen, wenn auch allesamt harten marxistischen Strömungen zu verorten, zu groß geworden, als dass man sich ihm noch entziehen konnte«, schreibt Sepp.
Der wichtige SDS-Theoretiker Krahl kommt im Buch nur kurz vor. Dabei hatte dieser, wie Emanuel Kapfinger jüngst nachwies, den Weg in die verschiedenen kommunistischen Spaltungen bekämpft. Sepp reißt diesen Prozess in Westberlin nur an, geht dabei aber auf heute zu Unrecht vergessene Initiativen wie die Projektgruppe Elektroindustrie/Proletarische Initiative (PE/PI) ein. Diese agierte unabhängig von einer gleichnamigen Gruppe in Westdeutschland und orientierte sich zunächst am italienischen Operaismus. Innerhalb kurzer Zeit vertrat auch die PE/PI das Konzept des Aufbaus einer straff geführten kommunistischen Organisation. Der Grund lag vermutlich darin, dass die erhoffte Selbstorganisation der Arbeiter*innen in der Fabrik selten über den Rahmen des Reformismus hinausgegangen war.
Die von Sepp dokumentierten damaligen Diskussionen, etwa um die Rolle von Mao und dessen Konzept der Massenlinie, mögen manchen Leser*innen heute unverständlich und skurril vorkommen. Dennoch lässt sich in der Rekonstruktion eine Linie in die Gegenwart ziehen. Wenn man dort über die linken Praxisfelder vor mehr 50 Jahren liest, fällt sofort auf, dass Linke bis heute kaum Antworten auf die damaligen Fragen gefunden haben. So beschreibt Sepp, wie die kommunistischen Aufbauorganisationen sich auf Miet- und Gesundheitsthemen konzentrierten und dabei erhebliche organisatorische Anstrengungen unternahmen, um Menschen ohne linken politischen Hintergrund anzusprechen.
Suchbewegungen
Den Organisierungsprozess der Kommunistischen Partei (Aufbauorganisation) (KPD-AO) beschreibt Sepp wie folgt: »Für die Jahre 1970 und 1971 kann man von mindestens vier Stadtteilgruppen in proletarischen Vierteln (Neukölln, Wedding, Moabit, Kreuzberg) mit je ungefähr zehn festen Mitgliedern (und sehr viel mehr lose mitarbeitenden Sympathisanten und Kandidaten, die sich um die Gruppe sammelten) … ausgehen.« Viele andere kommunistischen Gruppen versuchten sich in ähnlicher Weise am Organisationsaufbau, kooperierten gelegentlich, bekämpften sich aber auch häufig. Die Enttäuschung bei vielen Genoss*innen war vorprogrammiert. »Der kapitalismuskritische Impuls lief praktisch ins Leere, wie selbstkritisch intern eingeräumt wurde – die Frage, was echte kommunistische Agitation denn überhaupt ausmache, blieb somit offen«, zieht Sepp ein ernüchterndes Fazit.
Heute versuchen in den angesprochenen Stadtteilen Organisationen wie die Kiezkommune oder »Hände Weg vom Wedding« Antworten auf Fragen zu geben, die auch die Genoss*innen vor 50 Jahren bereits umtrieben. In dieser Hinsicht kann die Lektüre des Buchs nützlich sein, nicht um Initiativen abzuschrecken, sondern um Sackgassen zu vermeiden. Denn die Arbeit von Benedikt Sepp schreibt auch die detaillierte Geschichte einer linken Suchbewegung. In dieser sind die Anstrengungen von vielen Menschen eingegangen, die für eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung gekämpft haben.
Die Dummheiten nicht vergessen
Viele der Beteiligten, vor allem aus dem akademischen Milieu, wollten davon bald nichts mehr wissen und beschrieben diese Zeit als Horror oder Gehirnwäsche. Doch es gab auch die Jugendlichen, die Arbeiter*innen und die einkommensarmen Mieter*innen, die damals ebenfalls den Traum von einer anderen Gesellschaft teilten und für die jene politischen Aktivitäten eben nicht nur eine interessante Erfahrung vor dem Hochschulabschluss sein sollte. Es sind Frauen wie die alleinerziehende Mutter und Frührentnerin Irene Rakowitz, die in einer solchen Stadtteilgruppe im Märkischen Viertel politisiert wurde und den Kommunismus im eigenen Haushalt umsetzen wollte. In dem Dokumentarfilm »Von wegen ›Schicksal‹«, den Helga Reidemeister 1979 drehte, wurde Irene Rakowitz’ Kampf und ihr Leben festgehalten.
Solche Persönlichkeiten gab es viele: Frauen und Männer ohne bürgerlichen Hintergrund, die durch die linke Bewegung den Gedanken in den Kopf bekamen, dass es eine Gesellschaft ohne Kapital und Herrschaft geben kann. Sie kommen in dem Buch von Sepp nicht vor. Ebenso wird nur am Rande erwähnt, dass der gesellschaftliche Aufbruch von »68« über Ländergrenzen hinweg geführt wurde und sich bei Weitem nicht auf die Linke in Westberlin und der BRD beschränkte. Wenn man diese Begrenzungen der Sichtweise Sepps im Hinterkopf hat, kann man das Buch mit Gewinn lesen und sich ein Stück vergessene linke Geschichte aneignen – eine Geschichte, die bei all den gemachten Fehlern und auch grandiosen Dummheiten nicht einfach auf den Müll geworfen werden sollte.
Benedikt Sepp: Das Prinzip Bewegung. Theorie, Praxis und Radikalisierung in der Westberliner Linken 1961–1972, Wallstein Verlag 2023, 353 S., geb., 42 €.
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