Salvador Allende: Den Momios war nichts heilig

Warum der chilenische Aufbruch zum Sozialismus scheiterte, obwohl er durchaus eine Chance hatte

  • Johnny Norden und Jacob Gay-Norden
  • Lesedauer: 5 Min.

Die chilenische Linke unter Präsident Salvador Allende hatte den Weg zum Sozialismus ohne Waffengewalt beschreiten wollen. In erklärter Abgrenzung zu den sowjetischen und kubanischen Erfahrungen sollte das auf der Basis der bestehenden Verfassung geschehen. Daraus ergaben sich sowohl Chance als auch Verhängnis der chilenischen Revolution. Am 11. September 1973 ertränkte das Militär den Versuch einer sozialistischen Revolution in Chile in einem Blutbad.

Es gab durchaus eine Reihe günstiger Voraussetzungen für einen »friedlichen« Weg. Da war vor allem die hoch organisierte Arbeiterklasse, welche den Wahlsieg der Unidad Popular (UP), eines Bündnisses linker Parteien und Gruppierungen und ihres Präsidentschaftskandidaten Salvador Allende 1970 ermöglichte. Hinzu kam, dass die Unterstützung patriotischer chilenischer Militärs für die Allende-Regierung bedeutend war: Nicht nur der Oberkommandierende Carlos Prats und der Luftwaffengeneral Alberto Bachelet (dessen Tochter Michelle Bachelet in den 2000er Jahren Präsidentin Chiles werden sollte) gehörten zu den erklärten Verbündeten der chilenischen Linken, sondern auch die Generale Guillermo Pickering, Chef der Militärschulen, und Mario Sepulveda, Kommandeur der kampfstärksten Heereseinheit, der 2. Infanteriedivision, mit Standort in der Hauptstadt Santiago. Nach Prats waren das die beiden Militärs mit der höchsten Kommandogewalt. Ein weiterer, bisher unbekannter Fakt: Die Unteroffiziersschule des Heeres mit über 500 Kursanten und Ausbildern stand unter der Kontrolle UP-treuer Militärs. Sie warteten noch in der Nacht vom 10. zum 11. September auf einen Ruf zur Verteidigung der Regierung.

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Die Linke blieb tatenlos und überließ es der Reaktion, ihre Gegner in der Armee kaltzustellen und später zu ermorden. Zu sehr hatte sie dem Gewicht der bürgerlich-demokratischen Traditionen vertraut und den Bruch des Treueeids für unmöglich gehalten. So war der schnelle Sieg der putschenden Generale 1973 deshalb möglich, weil die Konterrevolution nur beim Regierungssitz Moneda auf Widerstand stieß.

Es lohnt sich daran zu erinnern, dass die Kommunistische Partei Chiles Anfang der 70er Jahre nach der KP Kubas als die größte linke Partei Amerikas galt. Ihre Mitglieder waren straff organisiert und in allen gesellschaftlichen Bereichen präsent. Allen Genossen war die Gefahr eines Staatsstreiches wohl bewusst. Die Mehrheit der Parteimitglieder war fest entschlossen, die Allende-Regierung zu verteidigen. Für den Ernstfall hatte die Parteiführung jedoch keinen Plan. Sie tat über das ganze Jahr 1973 praktisch nichts, um die Partei auf einen abrupten Wechsel der Kampfbedingungen organisatorisch und materiell vorzubereiten.

Wie groß die Chancen für einen entschlossenen Widerstand selbst am Tag des Staatsstreiches noch waren, bezeugt der Funkverkehr der putschenden Militärs. Als die Infanterie am Vormittag mit Panzerunterstützung den ersten Angriff auf den Präsidentenpalast unternahm, erhielten die Verteidiger der Moneda (nicht mehr als 20 Personen) Unterstützung durch eine Handvoll mutiger Chilenen, die aus umliegenden Ministerien die Angreifer mit Handfeuerwaffen beschossen. Auch ein zweiter Angriff geriet ins Kreuzfeuer und wurde von dem verängstigten Kommandeur gestoppt. Die Generale reagierten nervös. Pinochet befahl die Bombardierung des Präsidentenpalastes.

Worin bestand die zentrale Schwäche der chilenischen Revolution? – Ihre Führer unterschätzten die Wucht, mit der die gesellschaftlichen Kräfte freigesetzt wurden. Die Entmachtung des Großkapitals und die Realisierung eines umfassenden Sozialprogramms führten zwangsläufig zur Herausbildung von zwei Lagern. Auf der einen Seite der Enthusiasmus und die Entschlossenheit der bisher Unterprivilegierten. Sie wollten – wie die chilenische Gruppe Inti-Illimani sang – »nicht nur einen neuen Präsidenten haben, sondern ein völlig anderes Chile errichten«. Auf der anderen Seite die Angst und der Hass in den oberen Schichten der chilenischen Gesellschaft. Je deutlicher sie den ehrlichen Willen der Allende-Regierung erkannten, ihre Wahlversprechen zu verwirklichen und den Großbesitz an Produktionsmitteln radikal zu reduzieren, desto mehr wuchs die Entschlossenheit der Besitzenden, die alten Verhältnisse wiederherzustellen. Der sich aufschaukelnde Konflikt lief auf einen radikalen Bruch hinaus.

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Dies wurde jedoch von den Führern der Unidad Popular nicht rechtzeitig erkannt. Wie konnte es dazu kommen? Es waren eben jene jahrzehntelangen bürgerlich-demokratischen Traditionen in Chile, welche bei Allende und bei führenden Kadern der UP zum Glauben an die Chance eines friedlichen Wegs zum Sozialismus führten, einem Weg ohne Waffengewalt und Bürgerkrieg. Sie unterschätzten die Bereitschaft des Großkapitals, sich mit allen Mitteln zu wehren, wenn sein Eigentum gefährdet ist.

Das dogmatische Festhalten am »besonderen chilenischen Weg eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus« auf dem Boden der Verfassung durch die Führer der linken Parteien war tödlich. Die Reaktion hatte 1973 den Boden der Verfassung längst verlassen. Auf der revolutionären Seite hatte die gesellschaftliche Realität ihre Führer überholt: Als Antwort auf den Druck und den Terror der Reaktion waren in Wohngebieten und in Betrieben basisdemokratische Machtorgane entstanden, die die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln in ihre Hände nahmen, den Transport aufrechterhielten und die Produktion organisierten.

Offensichtlich waren die Siegchancen des chilenischen Volkes sehr viel größer als bisher angenommen. Die Lehren der chilenischen Revolution sind jedenfalls ein reicher Fundus für Parteien, die sich als links verstehen. In seinen letzten Worten sagte Allende, dass den »Momios« (Mumien, im Volksmund die Reichen) weder Verfassung noch Eid heilig sind, wenn es um Besitztum geht.

Die Tragik der chilenischen Revolutionäre besteht darin, dass sie an denselben Fehlern zugrunde gingen wie schon 100 Jahre vorher die Pariser Kommunarden. Sie glaubten, den bürgerlichen Staatsapparat nur in die Hand nehmen zu müssen, um ihn für ihre Zwecke in Bewegung zu setzen. Sie waren nicht entschlossen genug, die »bürokratisch-militärische Maschine« zu zerbrechen. Wie schon die Pariser Kommunarden wurden die chilenischen Revolutionäre Opfer ihres Vertrauens in die bürgerlich-demokratischen Traditionen und ihres Großmutes gegenüber dem politischen Gegner.

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