Kinder im Exil: Kein Platz auf Erden

Was erlebten die Kinder, die mit ihren Eltern nach dem Putsch aus Chile fliehen mussten? Thomas Grimm hat sie gefragt und gefilmt

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.
Heimat, wo soll das sein? Der junge Paulo mit seinen Eltern im Exil in Rostock.
Heimat, wo soll das sein? Der junge Paulo mit seinen Eltern im Exil in Rostock.

Es gibt verschiedene Perspektiven auf die Geschichte, die auch immer eine des politischen Kampfes ist. Nicht nur um die Macht wird gekämpft, auch darum, wie die Zukunft aussehen soll. Die Erwachsenen wissen in der Regel, was für die geschichtlichen Akteure auf dem Spiel steht. Aber die Kinder?

Über deren Perspektive auf den 11. September 1973 in Santiago de Chile und die Folgen für ihr Leben hat Thomas Grimm einen Film gedreht, der in der 90-minütigen Kinoversion »9/11 Santiago - Flucht vor Pinochet« heißt und in der 45-minütigen Fernsehfassung, die die ARD am 11. September um 23.50 Uhr sendet, »Kinder des Exils - Flucht vor Pinochet«. Grimm produziert mit Zeitzeugen-TV seit über 30 Jahren wichtige Dokumentarfilme, die alle auf dem Augenzeugenprinzip basieren. Ein riesiger Fundus an Zeitzeugendokumenten, Erinnerungen von Künstlern und Intellektuellen, aber auch weniger bekannten Akteuren der Geschichte ist da zusammengekommen. Was sie verbindet, ist der ganz eigene Blick auf das Geschehen und die Reflexion darüber. Die Frage: Musste es so kommen, wie es kam, oder hätte es auch ganz anders kommen können und wenn ja, dann wie und unter welchen veränderten Bedingungen?

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Drei Jahre, von 1970 bis 1973, stand Salvador Allende an der Spitze einer demokratisch gewählten sozialistischen Regierung in Chile. Am 11. September 1973 wurde sie durch ein Militärputsch blutig gestürzt. Allende wurde getötet und General Augusto Pinochet erklärte, das Militär werde »die Ordnung wieder herstellen«. Umgehend wurden die Anhänger Allendes verfolgt, verhaftet, gefoltert und viele von ihnen ermordet.

Für die Kinder ein unvorstellbarer Schock. Mit zehn von ihnen hat Thomas Grimm gesprochen. Heimat, wo ist das? Dort, wo man geboren wurde, aber nun Angst um sein Leben haben muss – oder in der Fremde, wo man zwar sicher ist, aber sich doch auch nach Jahren bestenfalls halb zu Hause fühlt? Immer neue Generationen von Exilanten durchleben diese innere Zerrissenheit. Doch jede Fluchtgeschichte ist anders und lohnt, erzählt zu werden. Das zeigt nicht nur der Film, sondern auch das umfangreiche Begleitbuch, das zu den Erinnerungen der Beteiligten auch detaillierte historische Hintergrundbetrachtungen stellt.

Was viele der Befragten sagen: »Von einem Tag zum anderen war die Kindheit vorbei.« Die Väter verschwinden als erste, aber auch die Mütter mit ihren Kindern sind bedroht. Die Kinder sollen schweigen, nichts über Unidad Popular und Allende sagen, das ist für die Familie lebensgefährlich. Es gibt Todeslisten, Frauen und Kinder verstecken sich im Untergrund. Die Verhafteten bringt man in Sportstadien, in denen verhört, gefoltert und gemordet wird. Mit Stromstößen auf Metallbetten werden die Menschen gequält. Auch der Sänger Victor Jara gehört zu den Opfern.

Musik ist immer ein Medium der Freiheit, gegen jede Diktatur. Auch das berichten Kinder von damals: wie die Musik – später war es vor allem Inti-Illimani – zum Heimatersatz wurde, wie sie aus ihr Hoffnung schöpften. Damals waren die Kinder drei bis acht Jahre alt, sie spürten mehr, als sie wissen konnten, dass hier etwas auf schreckliche Weise zerbrach: ihr bisheriges Leben, alles, was sie für normal gehalten hatten. Wenn man merke, so sagen sie, dass die Erwachsenen plötzlich Todesangst bekämen, dann verliere man etwas von jener selbstverständlichen Sicherheit, mit der die meisten Kinder sonst aufwüchsen.

Nach dem ersten Untertauchen stellt sich für alle Pinochet-Gegner die Frage, was man tun soll, auf sehr grundsätzliche Weise. Denn nach dem Putsch kommt die Diktatur. 17 Jahre wird die Junta mit Pinochet an der Spitze Chile beherrschen. Die Männer der Unidad Popular kommen, wenn sie denn überlebt haben, oft erst nach Jahren frei. Die Frauen und Kinder stehen allein da. In einem faschistischen Chile können und wollen sie nicht bleiben – und nun beginnt die Zeit des Exils, das sie bis heute mit sich tragen. Und da ist es dann plötzlich tatsächlich ein Problem, dass es die Männer sind, die in Chile das alleinige Sagen haben. Denn Frauen dürfen ohne Genehmigung ihrer Männer (die verhaftet sind) das Land nicht verlassen. Aber hier handelt es sich doch um Flucht, nicht um eine Urlaubsreise? So absurd kann es mitten in der Tragödie vor sich gehen.

Das Problem verschärft sich, weil über – vor allem europäische – Botschaften viele Frauen mit ihren Kindern zwar Papiere bekommen, mit denen sie theoretisch ausreisen dürften, aber praktisch nicht. 30 000 Chilenen nimmt Europa auf, 5000 die BRD und 2000 die DDR. Aber trotz der schützenden Papiere der Botschaften geht die Flucht oft über die Anden und die Grenze. Jene Chilenen, die nach Westdeutschland kommen, sehen sich als Sozialisten plötzlich in Auffanglagern konfrontiert vor allem mit Osteuropäern, die aus sozialistischen Ländern geflohen sind. Man versteht sich schlecht.

Ein junger chilenischer Professor möchte nach Tübingen an die Universität. Aber der Ministerpräsident von Baden-Württemberg heißt Hans Filbinger, ist ein vormaliger NS-Marinerichter, der vier Todesurteile gefällt hatte, und steht auf der Seite Pinochets. Er will keine chilenischen Exilanten aufnehmen. Da ist es der 90-jährige Philosoph Ernst Bloch, der den Fall zum öffentlichen Skandal macht. Dann dürfen doch etwa 30 Chilenen nach Tübingen.

Die Chilenen, die in die DDR kamen, wurden nicht nur freundlich aufgenommen, erhielten Wohnung und Arbeit, sondern wurden geradezu permanent gefeiert. Ein ganzer Neubaublock in der Berliner Landsberger Allee war von Exilchilenen bewohnt. Auch in Jena Neu-Lobeda wohnten sie zusammen. Das sei einerseits angenehm gewesen, erinnern sich die Kinder von einst, habe aber auch die Integration erschwert. Die Mütter – und dann auch die Väter, wenn sie nachkamen – schärften ihnen ein: Wir haben hier Asyl bekommen und ihr müsst euch gut benehmen, damit die deutsche Bevölkerung nicht von uns enttäuscht ist. Da habe er sich fast wie ein Roboter gefühlt, erinnert sich jemand, darauf programmiert, sich immer korrekt zu verhalten.

Die Kinder integrieren sich im Laufe der 70er Jahre, sie lernen schnell Deutsch. Alvaro sagt, es sei »nicht traumatisch gewesen, sondern interessant«. Doch dass sie immer eine Sonderrolle gespielt hätten, auf gut gemeinte Weise zu »Objekten der Solidarität« geworden seien, habe sie ständig daran erinnert, dass sie fremd gewesen seien. Fremd? Alvaro, der heutzutage wieder in Chile lebt, sagt, er denke immer noch auf Deutsch.

Das Exil hat die Chilenen in Ost- und Westdeutschland enger zusammengebracht: Man wusste, wogegen man kämpfte. Aber wusste man auch, wohin man gehörte? Die Kinder, die 1973 nach Deutschland gekommen waren, wussten es nach zehn Jahren nicht mehr so genau. 1983 kam die Nachricht, dass sie nach Chile zurückkehren könnten, wenn sie wollten. Wollten sie? In Chile herrschte immer noch Pinochet. Ein Teil der Exilanten kehrte dann zurück. Besonders die Jugendlichen merkten jedoch, dass sie anders waren als die anderen Chilenen, zur Hälfte waren sie deutsch. Nicht nur ihr Spanisch klang anders, sie hatten auch andere Erfahrungen gemacht, die sie nicht verleugnen wollten. Es war auch nicht egal, ob man aus der BRD oder der DDR kam. Wer aus dem Osten kam, wurde sofort wieder schikaniert. Die Kinder des Exils fühlten sich fremd in Chile. In einem Liedtext heißt es: »Es gibt für mich keinen Platz auf Erden.« Einige sagen, sie hätten nur eins gewollt: wieder zurück nach Deutschland.

Als es 1986 nach einem Attentat auf Pinochet wieder zu einer Verfolgungswelle gegen Sozialisten kam, gingen nicht wenige zum zweiten Mal ins Exil nach Deutschland. Einige blieben für immer – mit einer Sehnsucht nach einem Chile im Herzen, das es so nie geben würde. Aber der Traum ist in der Welt. Auch er kann Heimat sein. Diese Erfahrung teilen alle Exilanten zu allen Zeiten.

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