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Nadia Kaabi-Linke: Streitfall Mensch, Natur, Geschichte
Kampf um Geschichtsbilder: Im Hamburger Bahnhof in Berlin werden unter dem Titel »Seeing Without Light« Arbeiten der ukrainisch-tunesischen Künstlerin Nadia Kaabi-Linke ausgestellt
In welchem Verhältnis steht die Vergangenheit zur Gegenwart? Das ist eine Frage an unser Selbstverständnis als denkende Zeitgenossen, wohl wissend, dass jede Gegenwart die Tendenz hat, sich durch die Vergangenheit zu legitimieren. Um Geschichtsbilder wird gestritten. Auch in dieser Ausstellung.
Dem »Blindstrom« der Geschichte will die Künstlerin Nadia Kaabi-Linke in ihrer Ausstellung »Seeing Without Light« im Hamburger Bahnhof in Berlin nachgehen. Dabei spielen ihre ukrainisch-tunesischen Wurzeln eine nicht unwesentliche Rolle. Sie verändern ihre Perspektive auf unsere Gegenwart. So setzt die Ausstellung stärker auf Installations- und Performance-Elemente als auf den Werkcharakter der einzelnen Exponate. Ein offensiver Diskurs über Wahrheit und Lüge unseres Bildes von Wirklichkeit ist gewollt. Was soll aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt werden, mit welchen Mitteln der Manipulation arbeiten die politisch Mächtigen?
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Ansatzpunkt ist der Terror des Stalinismus, besonders der Jahre 1937/38, als nicht nur Tausende Menschen aus bloßer Feindparanoia heraus ermordet wurden, ebenso wurden viele Kunstwerke vernichtet oder – man kennt die Fotos – mittels Retusche entstellt. Weiße Flecken entstehen so, Bilder sollen »gesäubert« werden – und dieses Prinzip will Kaabi-Linke ins Bewusstsein holen.
Zu Beginn sehen wir »Schwarze Quadrate« nach Kasimir Malewitsch, kontrastiert von weißen Flächen, die wir aber leicht übersehen. Die Bilder sind zerkratzt. Das sind Spuren der Geschichte, der Attacken gegen die moderne Kunst. Malewitsch ist geborener Ukrainer, war er also der Verfolgung durch die Feinde der modernen Kunst ausgesetzt oder der Verfolgung durch die Russen? Das ist in Zeiten des Krieges zwischen Russland und der Ukrainer ein emotional hochgradig aufgeladenes Thema. Dennoch darf man der Sicht Kaabi-Linkes widersprechen, die das Problem in einem Interview für den begleitenden Katalog so auf den Punkt bringt: »Aus ukrainischer Sicht gab es lediglich zwei Feinde – einen alten, die Sowjets, und einen neuen, die Nazis.« Schlimm findet sie, dass »das sowjetische Narrativ immer noch in Holocaust-Gedenkstätten und im öffentlichen Diskurs« zu finden sei.
Daraus spricht ein Patriotismus, der fließend in Nationalismus übergeht. Prosowjetische ukrainische Persönlichkeiten sind aus dieser Perspektive sämtlich Kollaborateure – und der prominenteste unter ihnen wäre dann der Ukrainer Nikita Chruschtschow, Generalsekretär der KPdSU und wichtigste Figur der Entstalinisierung der sowjetischen Gesellschaft in den späten 50er und frühen 60er Jahren? War er somit eine Art ukrainisches Pendant zum französischen General Pétain, der während des Zweiten Weltkrieges mit den deutschen Besatzern kollaborierte? Das scheint doch recht kurzschlüssig und reproduziert jenen Hass, der jede Geschichtsschreibung ideologisiert. Auch das scheint ein Reflex des gegenwärtigen Krieges, in dem mit allen Mitteln nicht zuletzt um Geschichtsbilder gekämpft wird.
Aber Nadia Kaabi-Linkes Auseinandersetzung mit dem »Blindstrom« der Geschichte ist nicht vorrangig agitatorisch, sondern sucht mit durchaus originellen künstlerischen Mitteln nach weißen Flecken in den herrschenden Bildern von Geschichte. Da ist etwas verdeckt, beschädigt oder zerstört worden, was zum vollständigen Bild dazugehört!
Dieses Wissen um das Ungenügen eines bloß repräsentativen Bildes macht diese streitbare Ausstellung sehenswert. Typisch dafür ist ihr Umgang mit den Spuren des Zweiten Weltkrieges in Berlin. Heute sind die meisten der unzähligen Einschusslöcher im Putz der Häuser, die vor 30 Jahren noch das Bild der historischen Mitte prägten, fast alle wegsaniert worden. Es sieht alles wieder heil aus, das Kaputte, die Verletzung darunter sieht man nicht. Aber um dieses Darunterliegende geht es Kaabi-Linke, wenn sie einen Grabstein, der sich auf dem Werderschen Kirchhof in Berlin befindet, abbildet in hellroter Farbe – und auf diesem Stein eine weggesprengte Stelle ins Auge fällt, die Folge eines Einschusses. Da entsteht eine gleichsam tote Fläche, etwas fehlt, wurde gewaltsam zerstört.
Diese Spur der Gewalt, die die Erinnerung angreift, gilt es auf eine Weise kenntlich zu machen, die sie nicht einfach bloß überdeckt, sie mit etwas Neuem übermalt, sondern sie in ihrem fragmentarischen Charakter erhält. Dafür liefert die Ausstellung eine Reihe interessanter Beispiele, etwa, wenn sie eine lange Reihe von Haarabdrücken, die fragilen Lebensspuren gleichen, als Bilder in unterschiedlicher Höhe hängt, sodass diese Reihe dann wie ein Seismogramm wirkt, mit unterschiedlichen Ausschlägen.
Das Ende der bisherigen Industriegesellschaft, die die Natur (auch unsere als Menschen) angreift, ist ein weiterer Schwerpunkt der Ausstellung. Ein Triptychon widmet sich unserem Verhältnis zur Kohle. Eine schwarz-grau-weiße Fläche bildet eine Art Relief. »Abrieb« ist dabei ein Schlüsselbegriff: Wir vernutzen die Schätze der Erde – und indem wir das tun, vernutzen wir uns selbst.
Es sind bildgewordene Philosopheme, vor denen wir hier stehen. Der Raum wird durch dünne Fadenvorhänge geteilt, durch die man hindurchsehen kann. Darf man sie einfach beiseiteschieben, um hindurchzugehen? Nach anfänglichem Zögern tue ich es, sonst könnte man einige der Räume gar nicht betreten. Es gibt eine Art Tunnel, der im Dunkeln liegt. Aber das ist eine optische Täuschung, der Tunnel ist nur ein nicht beleuchteter Teil des Raumes, in dem Äste die Illusion von Waldeinsamkeit erzeugen. Man hört Vogelstimmen und fühlt sich entrückt, die Gewalt der Geschichte scheint nicht bis hierher zu reichen – und im nächsten Moment hört man schon den drohenden Lärm anfliegender Flugzeuge.
Manchmal sind es simple Einfälle, mit denen hier gewaltsame Interessenkämpfe symbolisiert werden. Eine Waage etwa: In der einen Schale ist Sand, in der anderen Salz. Anfangs befinden sie sich im Gleichgewicht, dann neigt sich die Seite mit dem Salz, es wird immer schwerer, weil das Salz mehr Feuchtigkeit aufnimmt als der Sand. Damit soll das Prinzip Kolonialismus versinnbildlicht werden, das immer nur die Kolonisatoren profitieren lässt – auch das wäre übrigens ein Beitrag zur Ukraine-Thematik.
Schließlich greift Kaabi-Linke auf ihre tunesischen Erfahrungen zurück, etwa, wenn sie auf Glasscheiben kaum sichtbar die Narben misshandelter Frauen abbildet oder sich der Brutalität des Schlachtens von Tieren zuwendet. Auf dem Markt von Tunis bemerkte sie die abgeschlagenen Köpfe von Rindern und Schafen, die ausgestellt waren. Wir sehen an den scharfen Fleischerhaken die Abdrücke von tierischen Innereien aufgehängt. Sie sind von ihr bewusst in »edlen« Materialien gefertigt: Porzellan und Edelstahl.
Unsere moderne Existenz fordert einen hohen Preis, den nicht alle gleich bezahlen. Dieses Motiv durchzieht diese Ausstellung, in der die Gegenwart um ein Bild von der Vergangenheit ringt, in das sie wie in einen Spiegel blicken könnte. Erkennt sie darin sich selbst? Wer nicht länger ein bloßes Objekt der Geschichte sein, sondern zu ihrem Subjekt werden will, kommt um bewusst gewordene Widersprüche nicht herum.
»Nadia Kaabi-Linke. Seeing Without Light«, bis 7. April 2024, Hamburger Bahnhof - Nationalgalerie der Gegenwart, Berlin
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