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Vier-Tage-Streik im Einzelhandel: Schmerzpunkt Logistiklager
Vier Tage lang bestreikt die Gewerkschaft Verdi den Einzelhandel in Berlin und Brandenburg
»Mist, ich habe das Nummernschild nicht mehr erkennen können«, sagt ein Teilnehmer der Streikkundgebung zu ein paar Mitstreiter*innen. Gerade war hupend ein Lkw von Edeka an der neongelben Menschenmenge auf dem Breitscheidplatz in Charlottenburg vorbeigefahren. Diese antwortete mit einem kurzen Jubel aus Schreien, Rasseln und Pfeifen. Der Demonstrant hätte wohl gerne versucht, den vorbeifahrenden Kollegen für die nächsten Tage von einer Streikteilnahme zu überzeugen.
Zum wiederholten Mal haben sich zahlreiche Mitglieder der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi zu einer Kundgebung versammelt. Sie sind deutlich an ihren Streikwesten zu erkennen. Etwas weniger als bei der letzten Kundgebung Anfang August dürften es sein. Damals kamen laut Verdi 1000 Beschäftigte zusammen. Allerdings waren da auch Angestellte des Großhandels mit dabei.
Seit Anfang Juni liegen die Forderungen von Verdi und das Angebot des Handelsverbands Berlin-Brandenburg (HBB) auf dem Tisch. Seitdem hat sich kaum etwas bewegt. Die Gewerkschaft fordert nach wie vor 2,50 Euro mehr Lohn pro Stunde. Das Angebot der Arbeitgeber*innen liegt immer noch bei einer Vertragslaufzeit von 24 Monaten, Lohnerhöhungen zum 1. Oktober 2023 und 1. Juli 2024 von 5,3 beziehungsweise 3,1 Prozent und eine Inflationsausgleichsprämie von einmalig 450 Euro.
Laut Verdi bedeute das Angebot der Arbeitgeber*innen unterm Strich ein Lohnplus von 90 Cent. Nicht genug, um die Reallohnverluste auszugleichen, meint die Gewerkschaft. Sie lehnt zudem eine Einmalzahlung ab: »Die Inflationsausgleichsprämie verpufft bei so viel Teilzeit«, erklärt Gewerkschaftssekretärin Conny Weißbach von der Bühne. 65 Prozent der Beschäftigten im Handel arbeiten in Teilzeit, oft ungewollt.
Gegenüber »nd« unterstreicht Weißbach darüber hinaus die von Verdi geforderte Laufzeit von neun Monaten: Der Tarifvertrag im Einzelhandel für Berlin und Brandenburg ende drei Monate später als in den anderen Bundesländern, in denen eine Laufzeit von zwölf Monaten gefordert wird. »Wir wollen ab der nächsten Runde wieder in allen Ländern zeitgleich mit den Verhandlungen starten.« Die für Berlin und Brandenburg verkürzte Laufzeit soll die bisherige Differenz ausgleichen, sagt Weißbach.
»Ich sage nur eines: Systemrelevanz«, sagt Silvana Meister. Während der Corona-Pandemie hätten die Arbeitgeber*innen die Beschäftigten noch umworben und ihre Bedeutung hervorgehoben, um das Geschäft am Laufen zu halten. Nun würden sie mit Löhnen abgespeist, die gerade so zum Überleben reichten. »Aber zur Teilhabe, zum eigentlichen Leben reicht es nicht«, sagt Meister.
Sie arbeitet im Kaufland-Logistiklager in Lübbenau. Eine Mitarbeiterin von Meister sagt zu »nd«: »80 Beschäftigte aus dem Lager sind heute hier, beim letzten Mal waren es nur 40.« Der Grund, warum sie da sei: »Wir brauchen mehr Geld.« Sie habe eine Tochter zu versorgen und müsse zudem die Kosten für den Arbeitsweg selbst tragen. »Eine Stunde fahre ich täglich aus Alt-Zauche.« Ein Kollege meint: »Viele neue Mitarbeiter sind Polen, die von Kaufland über eine Leiharbeitsfirma eingesetzt werden.« Erst nach und nach bekämen diese Festverträge.
Unter den achtzig angereisten Kolleg*innen aus Lübbenau sind auch einige Pol*innen, die kein Deutsch sprechen. »Der Zusammenschluss mit den Polen hat unseren Organisationsgrad erhöht. Dass sie hier sind, ist ein Erfolg«, sagt der Kaufland-Lagerarbeiter. Der Schlüssel sei, immer wieder ins Gespräch zu kommen und aufzuklären, dass Engagement wirkt und die Angst genommen werden kann.
Seine Kollegin weist auf noch etwas hin: »Wir versorgen 130 Märkte. Dort ist zum Teil blankes Chaos, wenn wir jetzt nicht wie gewohnt liefern.« Der HBB hatte am Mittwoch der »Morgenpost« mitgeteilt, dass der angekündigte Streik für die Gesamtheit der Läden ohne Relevanz bleibe. Dass sich das mancherorts anders darstellt, erzählen am Donnerstag Mitarbeiter*innen einer Kaufland-Filiale in Alt-Hohenschönhausen, die aus dem Großlager Lübbenau beliefert wird. Eine Mitarbeiterin schildert gegenüber »nd«: »Das Lager in Lübbenau ist ein Schmerzpunkt.« Wenn das jetzt zwei Liefertage bestreikt würde, blieben die Regale im Markt teilweise komplett leer oder die arbeitenden Kolleg*innen müssten die vorhandene Ware »breitziehen«, dass die Knappheit nicht so auffiele.
Gewerkschaftssekretärin Weißbach kündigte an, dass die Streiks statt bis Samstag bis Montag 24 Uhr laufen würden. Für Freitag seien Filialtouren geplant, auf denen nichtstreikende Kolleg*innen über ihre Arbeitsrechte aufgeklärt werden sollen. Zum Streik aufgerufen sind alle 290 000 Beschäftigten des Einzelhandels in Berlin und Brandenburg, zwei Drittel sind Frauen.
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