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Schirdewan: »Brandmauer gegen die extreme Rechte ist die Linke«

Martin Schirdewan über die Lage der EU, den Europawahlkampf und die Gefahr einer Spaltung der Linkspartei

Am Mittwoch hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor dem Europaparlament ihre Rede zur Lage der EU gehalten. Eine Steilvorlage für den Wahlkampf der Linken in Deutschland und in Europa?

Ja, ganz sicher. Es ist wirklich bedenklich, was sich da am Mittwoch ereignet hat. Offensichtlich lebt die Kommissionspräsidentin in einer Parallelwelt, wenn sie in höchsten Tönen die soziale und wirtschaftliche Situation der Europäischen Union lobt. Das ist eine völlig verzerrte Wahrnehmung davon, was im Alltag der Menschen passiert. Ursula von der Leyen ist in ihrer Rede weder auf die massive Steigerung der Lebenshaltungskosten, noch auf die Frage der wachsenden Ungleichheit oder die immer stärker eskalierende Armut eingegangen. Es gab auch keinerlei Visionen für die europäische Entwicklung. Stattdessen hat sie einer Verschärfung der Blockkonfrontation das Wort geredet. Ich finde, eine solche Präsidentin ist nicht tauglich für das Amt – gerade in Krisenzeiten.

Einige Beobachter*innen meinen, die CDU-Politikerin von der Leyen habe die Absicht verfolgt, die Konservativen noch weiter nach rechts zu öffnen.

Martin Schirdewan

Martin Schirdewan ist Europaabgeordneter der Partei Die Linke und Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Währung. Im Europäischen Parlament steht er gemeinsam mit der französischen Politikerin Manon Aubry der Linksfraktion (The Left) vor, seit Juni 2022 ist er neben Janine Wissler Parteivorsitzender der Linken.

Von der Leyen hatte vor allem ihre eigene konservative Parteienfamilie im Auge. Dabei hat sie das Tor nach rechts außen weit geöffnet. Ich frage mich, ob so ein Fundament der Zusammenarbeit zwischen Konservativen und der extremen Rechten auf europäischer Ebene oder auch im Europäischen Parlament gelegt werden soll. Das erleben wir ja bereits in einigen der Staaten, gerade erst wieder bei uns, in Thüringen, wo CDU, FDP und AfD kooperiert haben, um den Reichen zu Lasten von Kita-Betreuung und Sozialem fast 50 Millionen Steuererleichterungen zu schenken. Solch ein Schulterschluss zwischen Konservativen und Rechten bereitet mir große Sorge. Das zeigt: Man kann sich auf die Konservativen bei der Verteidigung der Demokratie nicht verlassen. Die Brandmauer gegen die extreme Rechte ist die Linke.

Viele der Leerstellen in der Rede der Kommissionspräsidentin greift die Linke im Entwurf ihres Wahlprogramms auf, der am Montag vorgestellt wurde. Das Dokument hat 85 Seiten. Was sind die Kernpunkte?

Wir rücken ganz klar die soziale Frage, die Frage der Umverteilung, in den Mittelpunkt. Unsere Botschaft ist: Wer Europa will, muss es Reichen und Konzernen nehmen und den Mut haben, sich mit den Lobbyisten anzulegen. Das heißt, die Umverteilung von privatem Eigentum zu öffentlichem, von hohen Vermögen hin zur Allgemeinheit, um tatsächlich die sozialen Missstände anzugehen. Insgesamt 95 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger sind aufgrund der Krisen der letzten Jahre entweder von Armut betroffen oder von Armut bedroht. Aber weder die EU-Kommission, noch die anderen Fraktionen im Europaparlament, noch die Regierungen – auch in Berlin – sind bereit, dieses Problem anzugehen. Hier werden wir als Linke angreifen. Eng damit verknüpft ist für uns die Frage, wie die Wirtschaft in Europa, also die industrielle Basis, nachhaltig umgebaut werden kann. Nämlich so, dass Arbeitsplätze erhalten bleiben und zukunftsfähig gemacht werden und gleichzeitig der technologische und ökologische Umbau gelingt. Damit verbunden ist die Frage der Klimagerechtigkeit. Wie kann zum Beispiel verhindert werden, dass Superreiche weiter auf Kosten armer Menschen oder des globalen Südens leben, oder große Konzerne das Klima verpesten, dafür aber letztlich immer die Armen die Zeche zahlen müssen? Dagegen braucht es endlich klare Regeln, wie ein Verbot von Privatjets. Weil der Markt es nicht regelt, müssen wir den Markt regeln. Und natürlich stellen wir uns Aufrüstung und Militarisierung der EU und einer militärischen Eskalation ganz entschieden entgegen. Europa darf nicht Teil einer neuen Aufrüstungsspirale sein, sondern muss sich unabhängig von der Blockkonfrontation zwischen den USA einerseits und China bzw. Russland andererseits machen.

Abgesehen vom Letzteren dürfte sich das auch im Wahlprogramm der Grünen finden. Warum sollte ich Die Linke wählen?

Ich habe nicht den Eindruck, dass die Grünen in letzter Zeit besonders interessiert daran sind, zum Beispiel öffentliche Daseinsvorsorge wieder in öffentliche Hand zu bringen. Ich sehe auch nicht, wie sie strategische Schlüsselsektoren aus den Händen von privaten Konzernen nehmen und unter öffentliche Kontrolle stellen. Aber unsere Wirtschaft braucht ein starkes öffentliches Rückgrat und die demokratische Beteiligung der Beschäftigten, wenn der Umbau gelingen soll. Ich sehe auch nicht, dass die Grünen als Bestandteil der Bundesregierung – oder der Ursula-Koalition, wie sie hier in Brüssel genannt wird – darauf drängen, dass es zum Beispiel in Fragen der Besteuerung großer Konzerne oder hoher Vermögen Fortschritte gibt. Wir unterscheiden uns eigentlich in allen zentralen Fragen, wo es um gesellschaftliche Kontrolle über öffentliche Daseinsvorsorge, strategische Schlüsselsektoren, aber auch Fragen der Umverteilung und dem Voranbringen von sozialer Sicherheit geht, von den Grünen. Auch bei den eigentlich grünen Themen enttäuschen die Grünen ja eher, wie bei der sozialen Abfederung der Maßnahmen gegen den Klimawandel. Der Markt regelt es eben nicht, aber die Grünen sind halt in ihrer Politik marktgläubig. Ähnliches gilt leider für die Sozialdemokraten: Jenseits netter Überschriften kommt da viel zu wenig. Wir nehmen dagegen als einzige auch keine Konzern-Spenden an. Wer eine Politik will, die den Mut hat, sich mit Reichen und Konzernen – auch nach der Wahl – anzulegen, der ist also bei der Linken gut aufgehoben.

Wann startet der heiße Wahlkampf für Die Linke? Wird es einen Auftakt geben?

Wir gehen Schritt für Schritt vorwärts. Zunächst müssen wir den Europaparteitag im November vorbereiten. Dort wird das Programm nach der jetzt begonnenen Debatte letztlich beschlossen und die Kandidatinnen und Kandidaten unserer Europaliste werden gewählt. Von diesem Punkt ausgehend, bereiten wir die heiße Phase vor. Wir planen einen großen Jahresauftakt im Januar. Das wird der nächste große Schritt nach dem Europaparteitag sein.

Eine erste Weichenstellung wird es am Wochenende geben, wenn der Bundesausschuss tagt und die Wahlvorschlag beschließt. Um die beiden parteilosen Kandidat*innen Carola Rackete und Gerhard Trabert, die der Parteivorstand für das Spitzenquartett vorgeschlagen hat, gab es Diskussionen.

Ich denke, dass der Bundesausschuss einen guten Vorschlag unterbreiten wird. Wir haben ja viele sehr gute Leute, die ihre Kandidatur erklärt haben. Ich persönlich freue mich über die Bereitschaft zweier bekannter Parteilosen, also Carola Rackete und Gerhard Trabert, auf der Liste der Linken zu kandidieren. Sie stehen für ein großartiges Engagement, für Menschenrechte, Klimagerechtigkeit und gegen Armut und sind bereit für die Linke anzutreten. Das ist ein gutes Zeichen, gerade angesichts des Rechtsrucks. Ich finde, das belegt, dass die gesellschaftliche Linke sich mit uns verbindet und die fortschrittlichen Kräfte zusammen rücken.

Es gab Kritik daran, dass mit Martin Schirdewan nur ein Ostdeutscher im Spitzenquartett vertreten sein könnte. Spielt das heute noch eine Rolle?

Für mich ist das Thema weiter sehr wichtig. Wir bringen ja immer wieder zum Beispiel die Überwindung der sozialen Ungleichheit zwischen Ost und West – wie der Lohnungleichheit von immer noch 13 000 Euro pro Jahr – in die Öffentlichkeit. Zuletzt ging ja nochmal durch die Öffentlichkeit, wie unterschiedlich Vermögen immer noch verteilt sind und vererbt werden, da bleiben wir dran. Ich bin sicher, dass der Bundesausschuss und der Parteitag einen klugen Vorschlag unterbreiten werden, der Ost und West repräsentiert.

Welche Folgen hätte eine Sahra-Wagenknecht-Partei für den Europawahlkampf der Linken?

Ein Konkurrenzprojekt zu unserer pluralistischen Linken wäre sicher keine Hilfe für soziale Gerechtigkeit und Frieden in diesem Land. Weil das die gesellschaftliche Linke schwächt und letztlich nur die extreme Rechte stärkt. Aber wie gesagt, wir werden mit einem sehr starken Programm und mit einem ausgezeichneten Personalvorschlag in diesen Wahlkampf gehen. Wenn die Partei geschlossen in diesen Wahlkampf zieht – und die Partei wird sich hinter Programm und Personal versammeln, da bin ich sicher – dann muss uns wirklich nicht bange sein.

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