Zu viele Beruhigungsmittel auf Dauer

»Qualitätsatlas Pflege« soll die Verbesserung von regionalen Strukturen anstoßen

Die stationäre Pflege ist nicht überall gleich gut oder gleich schlecht. Darauf weisen etwa Berichte des Medizinischen Dienstes hin. Schon aus der Bewertung der Heime kann hervorgehen, dass die Versorgung nach manchen Kriterien noch zu wünschen übrig lässt. Eine neue Untersuchung veröffentlichte jetzt das Wissenschaftliche Institut der AOK (Wido). Anhand von Routine-Abrechnungsdaten der Pflege- und Krankenkassen wurden große regionale Unterschiede in der Versorgungsqualität in Pflegeheimen festgestellt und transparent gemacht. Nachzulesen sind einige Ergebnisse auch online im »Qualitätsatlas Pflege«. Der umfangreichere Report wurde am Dienstag in Berlin vorgestellt.

Das AOK-Institut hatte für die vergleichende Untersuchung sogenannte »kritische Versorgungsereignisse« ausgewählt. Dazu zählen problematische Dauerverordnungen von bestimmten Schlaf- und Beruhigungsmitteln (Benzodiazepine und die kürzer wirkenden sogenannten Z-Substanzen). »Eigentlich sollten pflegebedürftige Menschen maximal vier Wochen mit den untersuchten Schlaf- und Beruhigungsmitteln behandelt werden. Denn bei Dauereinnahme drohen unter anderem Abhängigkeit, erhöhte Sturzgefahr und die Entstehung von Angstgefühlen, Depressionen und Aggressionen«, erklärt Antje Schwinger. Die Gesundheitsökonomin leitet den Wido-Forschungsbereich Pflege. Die AOK-Daten bestätigen den Befund früherer Studien, dass ein Versorgungsproblem in dieser Frage besteht – aber regional sehr unterschiedlich ausgeprägt ist.

Problematische Dauerverordnungen der genannten Mittel ließen sich in Heimen unter anderem im gesamten Saarland sowie in Nordrhein-Westfalen nachweisen, im letztgenannten Bundesland in 45 von 53 Kreisen und kreisfreien Städten. Insgesamt wurden für den Report Daten aus bundesweit 400 Kreisen ausgewertet, jedoch Kreise mit weniger als fünf Heimen nicht einbezogen. Erfasst wurden die Abrechnungen von 350 000 Heimbewohnern ab dem 60. Lebensjahr – und zwar zu verschiedenen Versorgungsfragen. Das sind etwa die Hälfte der stationär Versorgten in Deutschland.

Bei den Schlaf und Beruhigungsmitteln erwiesen sich Dauerverschreibungen für zehn und mehr Prozent der Bewohner als das schlechteste Ergebnis, jeweils auf Kreisebene. In den besten Kreisen erhielten nur fünf Prozent oder weniger der stationär Gepflegten länger diese Medikamente. Die Spanne reichte insgesamt von einem bis zu 25 Prozent. Bei bundesweiter Betrachtung blieben die östlichen Länder unterrepräsentiert, es gab also weniger häufig derartige Verordnungen.

Ein weiteres untersuchtes kritisches Ereignis waren Krankenhauseinweisungen wegen Dehydrierung. Besonders bei demenziell Erkrankten ist eine zu geringe Flüssigkeitsaufnahme schnell ein weiteres Gesundheitsproblem: Die Verwirrtheit nimmt zu, es werden dann unter Umständen noch einmal mehr Antipsychotika verordnet.

Das Problem ist seit Jahren bekannt. Abhilfe kann in Heimen durch reguläre, zeitlich feststehende Getränkerunden geschaffen werden, auch die Getränkeauswahl sollte für die Heimbewohner attraktiv sein, wie Wido-Forscherin Schwinger erläutert. Bei diesem Thema war das regionale Bild nicht so eindeutig, allein die bayerischen Landkreise an der Grenze zu Tschechien zeigten sich auffällig in negativer Hinsicht.

Als drittes Beispiel stellte das Wido die Häufigkeit von Krankenhauseinweisungen 30 Tage vor dem Lebensende in den Fokus. Sie sind vielfach unnötig (wie der Wido-Report des Vorjahres zeigte) und entsprechen auch nicht dem Willen von Sterbenden und ihren Angehörigen. Hier gibt es indessen sogar eine leicht positive Entwicklung: So sank der Anteil der Menschen, die in ihren letzten 30 Lebenstagen einen Krankenhausaufenthalt hatten, von bundesweit 47 Prozent im Jahr 2017 auf 42 Prozent im Jahr 2021. Aber die regionalen Unterschiede sind weiterhin groß: Das Saarland liegt hier noch bei 43 Prozent, Sachsen erreicht mit 36 Prozent den niedrigsten Wert.

Der erwähnte »Qualitätsatlas Pflege«, in dem landkreisgenau die Ergebnisse zu diesen Themen abzulesen sind, richtet sich laut Wido vor allem an Akteure vor Ort. Dabei geht es um Schnittstellen zwischen Pflege und Gesundheitheitsversorgung.

Starre Sektorengrenzen verlaufen etwa zwischen der medizinischen Versorgung und den Pflegeheimen. Sie verhindern vermutlich, dass die Heimbewohner immer bestmöglich versorgt werden. Das zeigt sich unter anderem in Schwierigkeiten bei der allgemeinmedizinischen und fachärztlichen Behandlung in Heimen. Das AOK-Institut erwartet von der Politik gesetzliche Vorgaben für verbindliche Versorgungsverträge zwischen Heimen und Ärzten sowie Krankenhäusern.

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