Verbindungen fürs Volk

In Chile wurde unter Salvador Allende eine Art sozialistisches Internet erprobt

  • Steffen Heinzelmann, La Paz
  • Lesedauer: 8 Min.
Der Opsroom sollte die Zentrale von Cypersyn werden.
Der Opsroom sollte die Zentrale von Cypersyn werden.

Der Militärputsch 1973 gegen Chiles Präsident Salvador Allende beendete nicht nur den Traum vom demokratischen Weg zum Sozialismus, sondern zerstörte gleichzeitig auch eine technologische Revolution. Denn in den Monaten vor dem Staatsstreich versuchte in dem südamerikanischen Land eine Gruppe von Expert*innen ein damals fast unvorstellbares Experiment: Mit dem Projekt Cybersyn wollten sie die chilenische Wirtschaft rechnerbasiert in Echtzeit steuern. Möglicherweise war das sogar eine Art sozialistisches Internet, auf jeden Fall aber die faszinierende Verknüpfung von Planwirtschaft und Informationstechnologie, von Kybernetik und Sozialismus.

Der britische Kybernetiker Stefford Beer wollte im Opsroom in Santiago die Fäden der chilenischen Wirtschaft zusammenlaufen lassen.
Der britische Kybernetiker Stefford Beer wollte im Opsroom in Santiago die Fäden der chilenischen Wirtschaft zusammenlaufen lassen.

Als am Mittag des 11. September 1973 die Armee den Präsidentenpalast La Moneda in der Hauptstadt Santiago de Chile mit Flugzeugen, Panzern und Truppen angriff, hantierte Raúl Espejo nur wenige Häuserblocks entfernt in den Büros der Corporación de Fomento de la Producción (Corfo), des Verbands zur Förderung der Produktion. »Als ich früh morgens im Radio die Nachricht vom Putsch hörte, beschloss ich sofort, ins Büro zu eilen«, erinnert sich Espejo an den Tag. Dort habe er sich alle Dokumente über Cybersyn geschnappt, die er finden konnte, und rannte damit nach Hause. »Natürlich war der Weg hinaus gefährlich, denn die Kugeln flogen: pum, pum, pum, von allen Seiten«, erzählte Espejo Jahrzehnte später dem Podcast Radio Ambulante.

Die Geschichte von Cybersyn begann zwei Jahre früher, im Juli 1971. Wenige Monate zuvor hatte der neu gewählte Präsident Allende erst sein Amt angetreten. Ein Ziel seiner sozialistischen Regierung war die Verstaatlichung und radikale Umgestaltung der chilenischen Wirtschaft. Gegen den erbitterten Widerstand der Rechten versuchte sie, die Lebenssituation für die Bevölkerung Chiles zu verbessern. Dabei suchte die Regierung auch nach innovativen Möglichkeiten, die Planung und Steuerung der Wirtschaft zu verbessern, denn die Verstaatlichung und Organisation von Kohlebergbau, Textilindustrie und später auch Kupfervorkommen waren kompliziert.

Raúl Espejo wurde in Bolivien geboren. Als er ein kleines Kind war, zog seine Familie nach Chile, und Espejo wuchs in Santiago auf. Er studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der Päpstlichen Katholischen Universität von Chile, nach seinem Abschluss begann er 1969 bei der Wirtschaftsförderungsbehörde Corfo zu arbeiten. Ein Jahr später ernannte Allende den jungen Ingenieur Fernando Flores zum Leiter der Behörde. »Fernando war ein Mensch voller Wissen und Tatkraft«, beschreibt Espejo diesen im Gespräch mit mir. »Wir haben viel über Kybernetik gesprochen und überlegt, wie man die sozialistische Industrie Chiles dezentral und effizient organisieren kann.«

Espejo und Flores verband die Begeisterung für die Kybernetik, die sich mit der Steuerung von Maschinen nach dem Vorbild lebender Organismen und sozialer Organisationen befasst. Und es verband sie der Enthusiasmus für den britischen Managementwissenschaftler Stafford Beer. Beer war damals Pionier der Kybernetik, bekannt machte ihn 1959 sein »Viable System Model« (Deutsch: »Modell lebensfähiger Systeme«), das Unternehmen und Organisationen als lebende und lernende Organismen versteht. Als Beer im Jahr 2002 starb, wurde er als Visionär und Guru beschrieben, als eine Mischung aus dem US-Regisseur Orson Welles und dem griechischen Philosophen Sokrates. Beer trug einen langen Bart und forschte nicht nur leidenschaftlich, sondern schrieb auch Gedichte. Manche seiner Ansätze – biologische Computer, lernfähige automatisierte Fabriken – klangen damals wie Science Fiction.

Im Juli 1971 habe er einen Brief fast von der anderen Seite der Welt erhalten, erzählte Stafford Beer drei Jahre später auf einer Konferenz an der Universität Manchester, der sein Leben total verändern sollte: Die chilenische Regierung schlug ihm darin vor, seine besonderen Kenntnisse einzusetzen, um die chilenische Wirtschaft zu organisieren. Für den Wissenschaftler war das die Gelegenheit, sein Modell unter realistischen Bedingungen zu testen. Im November desselben Jahres traf Beer in Santiago ein und entwickelte Cybersyn. Der Name ist eine Kombination der englischen Wörter »Cybernetics« und »Synthesis«; auf Spanisch wird das Projekt Synco genannt, für »Sistema de Información y Control.« Raúl Espejo wurde operativer Leiter des Projekts und blieb das bis zu dessen vorzeitigem Ende 1973.

Stafford Beer entwickelte die Idee eines dezentralen Informationssystems unter Anwendung seines Viable System Models: Daten über Rohstoffverbrauch, Produktion und Lieferketten wurden in Echtzeit gesammelt und sollten es der Regierung ermöglichen, die Wirtschaftstätigkeit zu überwachen, Engpässe zu erkennen und rechtzeitig einzugreifen. Die neue sozialistische Wirtschaft basierte auf gemeinsamer Planung, partizipativer Entscheidungsfindung und sozialer Gerechtigkeit, so die Idee.

»Allende war Doktor, ein Arzt, wie Sie vielleicht wissen«, sagte Beer später auf der Konferenz in Manchester, wie in einem Video zu sehen ist. »Und deshalb war es sehr einfach, ihm das Modell im Sinne der Neurokybernetik zu erklären: als Methode zur Kontrolle des Körpers.« Der Ansatz war, das Land zu verbinden – die Fabriken, die Zulieferer, die Ministerien, alles –, mithilfe eines Netzes, das wie das Nervensystem des Körpers funktioniert und Informationen aus dem ganzen Land sammelt.

»Ich habe einen großen theatralischen Atemzug genommen«, erzählte Beer auf derselben Konferenz 1974, wie er Allende verkünden wollte, wer das Gehirn des Ganzen sei und die Entscheidungen treffe. »Ich wollte sagen: ›Dieser Compañero sind sie, Präsident.‹ Bevor ich es sagen konnte, lächelte er plötzlich sehr breit und sagte: ›Ah, endlich: das Volk.‹« Beer gefiel Allendes Antwort, denn in seinem Viable System Model ging es darum, verschiedene Organisationsebenen zu erfassen und dazwischen Informationen auszutauschen, statt um Hierarchien.

Zentrales Element, quasi das Gehirn von Cybersan, war der Opsroom, ein sechseckiger futuristischer Kontrollraum, entworfen von einem Team um den deutschen Designer Gui Bonsiepe. Sieben weiße Drehsessel mit orangefarbenen Polstersitzen standen in der Mitte des Raums, mit den Knöpfen in der einen Armlehne konnten die großen Bildschirme an den Wänden gesteuert werden. Die andere Armlehne bietet Platz für einen Aschenbecher und Trinkgläser. Tische gab es nicht, damit die Menschen im Opsroom einander wirklich zuhören konnten, statt Blätter zu ordnen oder Dokumente zu lesen. Beer war bei der Entwicklung wichtig, dass die Informationen auf den Bildschirmen – und der Operationssaal selbst – von jedem verstanden und bedient werden konnten, nicht nur von Spezialist*innen.

Einen solchen Raum wollte das Team in jedem Ministerium und im Präsidentenpalast einrichten, vom Opsroom in seiner endgültigen Version gibt es allerdings nur einen Prototyp. Stattdessen wurde ein bescheidener Raum im achten Stock der Corfo-Zentrale in Santiago zur Zentrale von Cybersyn. Und auch Cybersyn selbst entwickelten Beer, Fernando und Espejo ein Jahr lang, ganz fertiggestellt wurde es nie.

Zum Einsatz kamen einzelne Komponenten von Cybersyn trotzdem. Nicht zuletzt dank eines glücklichen Fundes vernetzte das Team das ganze Land, wie Raúl Espejo schildert: »Wir entdeckten in alten Lagern der Telekommunikationsgesellschaft etwa 500 Telex-Geräte, die von der vorherigen Regierung gekauft worden waren.« Mit diesen Fernschreibern, einem Vorläufer des Faxgeräts, konnten Informationen von einem Ort zu anderen übertragen worden. Espejo und sein Team verteilten die Geräte innerhalb von wenigen Wochen von einem Ende Chiles bis zum anderen, in staatlichen Fabriken, in Ministerien, im Präsidentenpalast. Dieses Unterprojekt nannten sie Cybernet.

Cybernet und die Fernschreiber waren nützlich, als im Oktober 1972 ein Streik der Lastwagenfahrer die Wirtschaft lähmte. Politische Gegner Allendes unterstützten diesen Protest. »Innerhalb von zwei Tagen standen landesweit mehr als 40 000 Lastwagen still. Alle Produkte – Lebensmittel, Treibstoff, Rohstoffe – wurden in Chile nicht mehr transportiert. Die Lage sah ziemlich düster aus«, erinnert sich Espejo.

Es gab auch regierungstreue Fuhrunternehmen. Nicht viele, aber mit dem Cybernet konnten etwa 200 Fahrzeuge koordiniert werden und den Grundbedarf der Bevölkerung decken. Etwa zweitausend Nachrichten pro Tag wurden per Telex übermittelt, um herauszufinden, wo Material oder Lebensmittel benötigt werden, welche Straßen frei sind, wo es an Treibstoff mangelt.

Obwohl Cybersyn noch im Aufbau war, experimentierte Stafford Beer in Chile bereits mit einem noch utopischeren Projekt: Cyberfolk. Seine Idee war, dass die Menschen auf einem Gerät zu Hause ihren Glückszustand einstellen können und auf diese Weise die Entscheidungsfindung der Regierung beeinflussen.

Doch während das Team vom Projekt Cybersyn damit beschäftigt war, Science Fiction in die Realität umzusetzen und Anfang September 1973 die Einsatzzentrale von Corfo in den Präsidentenpalast La Moneda verlegt werden sollte, um sie dort offiziell einzuweihen, verschlechterte sich die politische Situation für die Regierung in Chile. Das Militär putschte unter General Augusto Pinochet, und noch am selben 11. September 1973 war Präsident Salvador Allende tot.

Zwei Tage nach dem Staatsstreich stoppten mehrere Lastwagen vor dem Haus, in dem Espejo wohnte. Soldaten stürmten herein und nahmen den Wissenschaftler mit, sie wollten eine Erklärung von ihm für das Kontrollzentrum und die Fernschreiber, die sie in den Büros von Corfo gefunden haben. Wenig später bekam Espejo einen Anruf von einem Kollegen. »Und der sagte zu mir: ›Raúl, verschwinde. Verschwinde so schnell wie möglich.‹« Daraufhin habe er beschlossen, Chile zu verlassen.

Im November 1973 ging Raúl Espejo nach Großbritannien, Beer verschaffte ihm einen Job an der Universität Manchester. Espejo lebt und forscht bis heute in Großbritannien, in den Neunzigerjahren war er Professor für Systeme und Kybernetik an der Universität Lincoln, seit 2017 Präsident der Weltorganisation für Systeme und Kybernetik. Als Espejo Chile verließ, nahm er jene Dokumente über Cybersyn mit, die er am Tag des Putsches aus seinem Büro holen konnte.

Cybersyn war ein bahnbrechendes Experiment, das die Ideen der sozialistischen Wirtschaftsplanung mit Informationstechnologie und Kybernetik verband, um eine gerechtere und partizipative Gesellschaft zu schaffen. Das Projekt warf damals schon Fragen auf, die wir uns heute noch stellen – nämlich welche Entscheidungen wir an Maschinen abgeben können und wie wir Technologie und auch künstliche Intelligenz zum Wohl der Gesellschaft nutzen können.

»Was wir in Chile gemacht haben, war revolutionär«, sagte Raúl Espejo vor wenigen Jahren in einem Interview mit Radio Ambulante. Der große Wert von Cybersyn liege nicht in der technologischen Entwicklung, sondern in der organisatorischen Vision: »Und das ist, glaube ich, das Vermächtnis, das bleibt. Im Grund ging es nicht darum, ein Silicon Valley in Chile zu schaffen«, meinte Espejo, »sondern eine egalitärere Gesellschaft.«

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