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Berlinische Galerie: Munch-Hype im Munch-Herbst

Eine Ausstellung in der Berlinischen Galerie zeigt das Werk Edvard Munchs und widmet sich dabei insbesondere dessen Zeit in der deutschen Hauptstadt

Selbstporträt Munchs auf einem Reisekoffer in seinem Atelier in der Lützowstraße 82, Berlin, 1902
Selbstporträt Munchs auf einem Reisekoffer in seinem Atelier in der Lützowstraße 82, Berlin, 1902

Millennials mögen sich erinnern: Ende der Nuller- bis Anfang der Zehnerjahre gab es hierzulande, zumindest im studentischen Milieu, einen kulturellen Skandinavien-Hype. Man hörte schwedische Indie-Bands wie Mando Diao oder The Hives, trug Kleider mit floralem Muster oder karierte Holzfällerhemden und aß mit Vorliebe Kanelbullar, also schwedische Zimtschnecken. An den Anfang von Textnachrichten setzte man statt eines englischen »Hey« ein skandinavisches »Hej« bzw. »Hei«. Manche Enthusiastin richtete gar ihre Lebensplanung nördlich aus und begann ein Skandinavistikstudium. Zu tun hatte das damals wohl auch mit einer folkloristischen Sehnsucht nach ländlicher Idylle und heiler Welt, die man auf die dünn besiedelten skandinavischen Länder projizierte.

So ähnlich kann man sich vielleicht die Begeisterung für den hohen Norden vorstellen, die die Deutschen schon einmal erfasst hatte, Ende des 19. Jahrhunderts. Damals feierte man Henrik Ibsen und Bjørnstjerne Bjørnson – was den länger zurückliegenden Trend freilich etwas hochgeistiger erscheinen lässt als den rezenten – und war verrückt nach großformatigen nordischen Landschaftsansichten. Zwei imposante, norwegische Fjorde zeigende Ölbilder aus dieser Zeit von Themistokles von Eckenbrecher und Adelsteen Normann sind gerade in der Berlinischen Galerie zu sehen, in der Ausstellung »Edvard Munch. Zauber des Nordens«.

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Eine schöne kuratorische Idee, können sich die Besucher doch so vergegenwärtigen, mit welchem Norwegen-Bild Munch brach, als er 1892 auf Einladung des »Vereins Berliner Künstler« erstmals in der Hauptstadt ausstellte. Den damals 28-Jährigen interessierten Landschaften nur als Spiegel der menschlichen Seele, und er malte nicht im realistischen Stil der Spätromantiker, ja, noch nicht einmal impressionistisch (was damals auch noch nicht überall akzeptiert war). Stattdessen konfrontierte er die Betrachter in groben Pinselstrichen und kräftigen, bisweilen schmutzigen Farben mit Themen wie Sexualität, Ausschweifung und Tod. So befand sich in seiner Berliner Schau etwa das Bild »Das kranke Kind«, mit dem Munch die Tuberkuloseerkrankung und den Tod seiner Schwester Sophie verarbeitete, oder »Der Tag danach«, eine Ansicht einer jungen Frau nach einer durchzechten Nacht – damals ein provokantes Motiv. Emotionen waren es, die der Maler darstellen wollte. Etwa ein Vierteljahrhundert, bevor Sigmund Freuds Vorlesungsreihe zur Psychoanalyse erste Aufmerksamkeit erlangte, postulierte Munch mit seiner Kunst ein nach innen gerichtetes Weltbild, das die Rationalität des 19. Jahrhunderts infrage stellte – und deswegen als Drohung wahrgenommen wurde. Seine Ausdrucksweise umfasste schon damals alles, was man Anfang des 20. Jahrhunderts unter »Expressionismus« fassen sollte.

So etwas hatte man in der deutschen Hauptstadt nicht erwartet. Ein Sturm der Entrüstung brach los. Die Mehrheit der Vereinsmitglieder stimmte in einer schnell einberufenen Versammlung dafür, die Ausstellung schließen zu lassen. Dass aber nun zahlreiche Zeitungen über den »Fall Munch« berichteten, verschaffte dem Künstler ironischerweise eine Fülle an Aufmerksamkeit, die er sonst niemals erlangt hätte – und ebnete ihm die Laufbahn.

Ausgehend von diesem Ereignis fokussiert die Ausstellung in der Berlinischen Galerie die Berliner Jahre Munchs, der ab jenem Zeitpunkt bis 1908 immer wieder für längere Zeit an der Spree lebte und Mitglied der 1898 gegründeten »Berliner Secession« wurde. So sind zum Beispiel neun der zwölf Gemälde zu sehen, die Munch im Auftrag Max Reinhardts für den Festsaal des Deutschen Theaters anfertigte. Heute befinden sie sich in der Sammlung der Berliner Nationalgalerie.

Berlin war ein Ort der künstlerischen und dabei auch technischen Entwicklung für Munch: Er lernte etwa Drucke wie Radierungen, Lithografien und Holzschnitte herzustellen; in der Berlinischen Galerie ist nun ein ganzer Raum mit ihnen gefüllt. Der Kunstsammler Curt Glaser, der zu den wichtigsten Förderern des Malers gehörte, hatte von 1909 bis 1924 erst als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter, später als Kustos im Berliner Kupferstichkabinett gearbeitet und die Werke in diesem Zeitraum angekauft.

Ebenfalls ausgestellt sind Gemälde aus dem sogenannten Linde-Fries, den der Lübecker Arzt Max Linde bei Munch in Auftrag gegeben hatte. Munch sollte ein Kinderzimmer mit rundumlaufender Malerei gestalten. Linde lehnte den Fries jedoch nach seiner Fertigstellung als zu frivol und damit nicht kindgerecht ab. Schade, dass die von Linde wohl als am anstößigsten empfundenen Motive nicht in der Berlinischen Galerie zu sehen sind.

Eine Stellwand in der mittigen Halle wirft Schlaglichter auf das Leben Munchs in Berlin. Wichtig für dessen künstlerische wie persönliche Entfaltung war etwa der Weinkeller »Zum Schwarzen Ferkel« an der Ecke Unter den Linden/Neue Wilhelmstraße, in dem sich die deutsch-skandinavisch-polnische Bohème traf. Darunter der Schwede August Strindberg und der polnische Schriftsteller Stanisław Przybyszewski, mit denen Munch bald ein illustres Gespann bildete. Dabei wurden sie alle drei, »während sie weiterhin mit ihren Empfindungen für Frauen rangen«, wie der US-amerikanische Kunsthistoriker Reinhold Heller in seiner Munch-Biografie schreibt, »durch latente homoerotische Gefühle verunsichert«. Eine dieser Frauen – auch sie wird in der Berlinischen Galerie vorgestellt – war die norwegische Pianistin Dagny Juel, die Munch noch aus seiner Zeit in Kristiania (dem heutigen Oslo) kannte. Sie verdrehte allen Männern den Kopf, auch wenn sie seit 1893 mit Przybyszewski verheiratet war. Juel gilt als Modell für Munchs bekanntes »Madonna«-Motiv, von dem man in der Ausstellung eine Farblithografie besehen kann.

Der Schau gelingt es, mit einer Fülle von Objekten – darunter sogar Fotografien: Munch schoss ungewöhnlich viele Selbstporträts – sowie lesenswerten Begleittexten und Audiobeiträgen einen umfassenden Überblick über Munchs Leben und Werk zu vermitteln. Ein Besuch will allerdings wohlüberlegt sein: Bei der Verfasserin dieses Artikels entstand bei dem ihrigen der Eindruck, ein erneuter Nordic Hype sei losgebrochen, diesmal vor allem unter älteren Semestern. Im November wird er seine Fortführung finden, mit einer Munch-Ausstellung im Potsdamer Museum Barberini – immerhin hätte der Maler in diesem Jahr seinen 160. Geburtstag gefeiert. Wer auch kulinarisch dem Trend folgen will, kann im Café Dix der Berlinischen Galerie zu Mittag essen: »Matjes, Hausfrauensauce auf Kartoffel-Linsen-Püree, rote Bete, Meeresspargel« wird dort als Munch-Spezialgericht serviert. God appetitt!

»Edvard Munch. Zauber des Nordens«, bis zum 22. Januar 2024, Berlinische Galerie, Berlin-Kreuzberg

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