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»Wir müssen die Menschenrechte in den Mittelpunkt rücken«
Helena Maleno Garzón kritisiert die Grenzregime in Nordafrika und die Aufrüstung entlang der Migrationsrouten
Wie denken Sie über das neue Migrationsabkommen der EU mit Tunesien?
Die Europäische Union ist wegen der Einwanderungskontrollen sehr schädliche Beziehungen mit Anrainer- und Transitstaaten an den EU-Außengrenzen eingegangen, darunter Marokko, Tunesien oder Libyen. Menschen auf der Flucht werden hier als Verhandlungsmasse eingesetzt, mit Staaten, in denen deren Rechte missachtet und verletzt werden, einschließlich ihres Rechts auf Leben. Diese internationalen Beziehungen sind geprägt von umfangreichen Investitionen von Rüstungsunternehmen, die in der Migrationskontrolle ein neues Geschäft entdeckt haben. Ein Großteil der EU-Gelder, die nach Tunesien und Marokko fließen, werden in den Kauf von Waffen und die Militarisierung der Migrationsrouten und Transitstrecken gesteckt.
Wie kann die Zukunft dieser Menschen aussehen in Staaten, aus denen sie wegen Menschenrechtsverletzungen fliehen und die sie gleichzeitig davon abhalten sollen, nach Europa zu flüchten?
Mit der Externalisierung der Grenzen und damit der Zusammenarbeit zwischen den Staaten der Europäischen Union und denen Nordafrikas steht in erster Linie das Recht auf Leben auf dem Spiel, und zwar durch eine militärische Kontrolle, die es erlaubt, dass Menschen auf der Flucht zu Tode kommen oder zum Sterben zurückgelassen werden. Zudem existiert bereits ein ganzes Ausbeutungssystem, in das Geflüchtete anschließend hineingeraten können. Das ist in erster Linie deshalb möglich, weil deren Recht auf Asyl weder respektiert noch garantiert wird. Es fällt auf, dass die Politik der Externalisierung zu einem Anstieg des institutionellen und sozialen Rassismus in Staaten wie Tunesien geführt hat. Wir mussten zusehen, wie Tunesiens Regierung zur Jagd auf Migranten aufgerufen hat und damit die Tage andauernde »Nacht des zerbrochenen Glases« auslöste.
Sie spielen auf die von den Nazis ausgerufene »Reichskristallnacht« an – die November-Pogrome von 1938 an den Juden. Auslöser für die anhaltende Gewalt in Tunesien war die Rede des tunesischen Präsidenten Kais Saied am 21. Februar, als er von »Horden« illegaler Einwanderer aus Subsahara-Afrika sprach, die Quelle von Gewalt und Kriminalität seien. Er hatte daraufhin seine Sicherheitskräfte aufgerufen, gegen deren »Umgestaltung des Staates« vorzugehen. Seitdem herrscht ein Klima der Straflosigkeit in Tunesien. Tausende Menschen wurden mit Gewalt aus ihren Häusern, Wohnungen und Geschäften vertrieben.
Ja, genau. Es handelt sich um denselben faschistischen Diskurs vom großen Bevölkerungsaustausch, mit dem einen Unterschied, dass nun die überwiegend weiße und arabische Bevölkerung der nordafrikanischen Staaten durch schwarze Menschen im Land ausgetauscht werden sollen. Die Migranten würden nur zu dem Zweck ins Land kommen, um das »saubere arabische Blut zu färben und zu ersetzen«. – Ziemlich verrückt also, dass der gleiche Nazidiskurs jetzt von denen ausgeht, die meinen, Araber zu sein und reines arabisches Blut zu haben.
Sie meinen, die Politik der Auslagerung von Grenzen habe schädliche Auswirkungen auch nach innen?
Eine solche Politik hat Auswirkungen auf die Bevölkerung selbst und führt zu Menschenrechtsverletzungen. Insbesondere wird auf diese Weise eine Situation der totalen und absoluten Straflosigkeit geschaffen. Wir sehen es in den Internierungslagern in Libyen, wir sehen es in Tunesien, und wir sehen es in Marokko, wo es weder rechtliche noch politische oder soziale Schutzmechanismen für diejenigen gibt, deren fundamentale Menschenrechte verletzt werden und die Gewalt erleiden.
Menschen auf der Flucht widerfahren an den EU-Außengrenzen alle Formen der Gewalt und unterlassener Hilfe auch durch Sicherheitskräfte, wo sie doch in der EU auf Schutz hofften. Sie machen Erfahrungen tiefen Verrats an der Menschlichkeit. Warum geht die EU über die Not Tausender Zivilisten hinweg?
Mit der Verletzung von Menschenrechten und dieser Gewalt wird in der europäischen Bevölkerung ein Grenzregime normalisiert. Aber das Transnationale Institut, ein internationaler Think Tank, spricht dagegen von einem »Grenzkrieg«. Es sagt, dass im Mittelpunkt dieser Externalisierung und Militarisierung die Geschäfte stehen würden, die mit diesem Grenzkrieg gemacht werden könnten und bei denen es nur Opfer auf einer Seite gebe. Zu dieser Einschätzung kommen nicht nur weitere Experten und Forscher, sondern auch viele soziale Einrichtungen und Pazifisten. Dieser Grenzkrieg wurde über Jahrzehnte durch Propaganda gefördert. Diese hat schließlich dazu geführt, dass Menschen, die von anderswo herkommen, dehumanisiert und ihrer grundlegenden Rechte beraubt werden. Selbst Kinder von Migranten haben sie der Menschenwürde beraubt.
Was haben Sie genau beobachtet?
Nun, die Behörden sprechen zum Beispiel nicht von Kindern, sondern sie verwenden Akronyme, wenn sie ihnen all ihre Rechte entziehen und nennen sie Menas, »menores no acompañados«, also unbegleitete Minderjährige. Wir dürfen nicht wegschauen und müssen auch über den Sorgerechtsentzug sprechen und über die Mütter, denen während des Einwanderungsverfahrens auf verschiedene Art gewaltsam Söhne und Töchter weggenommen werden. Wir müssen klar und deutlich über solche Menschenrechtsverstöße sprechen.
Spanische Sicherheitskräfte gingen am 24. Juni 2022 in Melilla äußerst brutal gegen rund 2000 Migranten – auch Minderjährige – vor, die versucht haben sollen, den Grenzzaun von Marokko nach Spanien zu stürmen. Es gab Tote und viele Verletzte. In einem früheren Interview mit dem »nd« sagten Sie, die Geflüchteten seien unvorbereitet gewesen. Das klingt so, als ob diese Unruhen an der EU-Außengrenze gezielt herbeigeführt worden sind.
Das Massaker an der Grenze zwischen Melilla und Nador ereignete sich genau an dem Juni-Wochenende, als sich die EU-Außenminister in Spanien zu einem Nato-Gipfel trafen. In den Tagen zuvor hatte Außenminister José Manuel Albares noch darüber gesprochen, dass es notwendig sei, Migration als hybride Bedrohung in den Nato-Staaten zu betrachten. In derselben Woche hatte Marokko Menschen, die sich in Nador aufhielten, so drangsaliert und misshandelt, dass sie sich zum Grenzzaun aufmachten. Aus allen Untersuchungen, die durchgeführt wurden, geht hervor: Die Menschen sind mit Gewalt dazu gedrängt worden, damit genau das geschehen sollte, was sich schließlich dann auch medienwirksam ereignet hat.
Sie sagen, die Berichterstattung vom sogenannten Sturm illegaler Migranten auf die europäischen Außengrenzen war so gewollt?
Ja, es bestand ein großes Interesse an der medialen Verbreitung dieser Bilder. Sie machen deutlich, wie weit die Staaten zu gehen bereit sind und mit welcher Straflosigkeit sie solche Gewaltsituationen hinnehmen können. Spanien beglückwünschte Marokko noch für sein Vorgehen und sagte, dass sich die Ereignisse auf marokkanischem Boden zugetragen hätten. Das ist nicht die Wahrheit. Es gibt Beweise dafür, dass es sich um eine transnationale Zusammenarbeit handelte. Caminando Fronteras hat deshalb mit vier weiteren Nichtregierungsorganisationen eine Beschwerde bei der spanischen Regierung eingereicht. Wir werden nicht aufhören, bis den Familien Gerechtigkeit widerfährt und wir die Todesopfer identifizieren und würdevoll begraben konnten.
Das heißt, Spanien nutzt Migrationsbewegungen und Konflikte an seinen Außengrenzen, um bewusst mehr Druck auf die EU-Migrationspolitik zu erzeugen?
Ja. Bedauerlicherweise werden die Migrationsbewegungen in bilateralen Staatsbeziehungen weiterhin als Verhandlungsmasse benutzt, gleich ob zwischen Europa und Nordafrika oder zwischen den süd- sowie osteuropäischen Staaten und denen Mitteleuropas. Das ist eine Realität, der wir ein Ende setzen müssen, indem wir die Menschenrechte wieder in den Mittelpunkt rücken. Irgendwann werden wir auch über das Recht auf Bewegungsfreiheit sprechen müssen – eine wichtige Debatte –, weil dieses Recht systematisch verweigert wird.
Wie unterstützt Caminando Fronteras Migranten, die ihre Flucht überlebt haben? Wie deren Familien sowie die Hinterbliebenen der Todesopfer und der Vermissten?
Menschen, die Menschenrechtsverletzungen erleiden mussten, haben das Recht auf Wiedergutmachung und den Zugang zu Gerichtsverfahren. Caminando Fronteras versucht, den Rahmen dieser Straflosigkeit zu durchbrechen und der Gewalt auf mehreren Ebenen zu begegnen. Wir stärken Migrantengemeinschaften in ihrer Resilienz und begleiten ihre Widerstandsprozesse; wir unterstützen deren Selbstorganisation, damit sie sich vor Gewalt schützen können. Während dieser Begleitung begegnen uns auch Migrantenfamilien, die nach Verstorbenen und Vermissten suchen und welche die Menschenrechte auch über den Tod hinaus in den Mittelpunkt ihrer Suche stellen. Denn eine Person, die vermisst wird, hat das Recht, gefunden zu werden. Und Tote haben das Recht darauf, identifiziert und würdig bestattet zu werden, ihre Familien haben ein Recht auf eine Sterbeurkunde.
Caminando Fronteras begleitet und unterstützt also bei dieser Aufklärung und Wahrheitsfindung?
Ja, das ist sehr wichtig für die Familien, die sich auf die Suche nach Wiedergutmachung und Gerechtigkeit begeben. Wir begleiten sie auch dann, wenn sie scheitern und sie ihre Versuche wiederholen müssen. Die Familien der Vermissten und Ertrunkenen machen die Tatsachen sichtbar: Wir haben in der Europäischen Union Massengräber, in denen Menschen ohne Namen begraben sind, und ein Mittelmeer, in dem Tausende Opfer dieses Grenzkrieges liegen.
Helena Maleno Garzón, 53, ist Journalistin, spanisch-marokkanische Menschenrechtsaktivistin und Autorin sowie Gründerin von Caminando Fronteras („Wandernde Grenzen“). Aufgrund ihres Einsatzes für die Menschenrechte von Migranten und Opfern von Menschenhandel wurde sie gezwungen, Marokko zu verlassen. Während immer wieder versucht wird, sie in ihrer Menschenrechtsarbeit mit körperlichen Angriffen, einer lebenslangen Haftstrafe oder auch Mord einzuschüchtern, nahm sie inzwischen die Ehrendoktorwürde der Universität der Baleareninseln und zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen für ihre Menschenrechtsarbeit entgegen.
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