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- Kritik am Sozialchauvinismus der Reichen
Schluss mit der Naivität!
Olivier David hält Kritik am Sozialchauvinismus der Reichen für naiv
In der vergangenen Woche hat ein Video des österreichischen Ministerpräsidenten Karl Nehammer für Aufregung gesorgt. Darin hetzt er in einem Weinlokal vor Parteikolleg*innen gegen Armutsbetroffene. Kinderarmut, das sei ja überhaupt kein Problem in Österreich, so der Vorsitzende der konservativen ÖVP. Und überhaupt, ein Cheeseburger mit Pommes würde bei Mc Donalds nur 3,50 Euro kosten.
Man kennt das: Die Lindners und Nehammers erklären dem Volk, wie dumm arme Menschen sind. In sozialen Medien und unter Journalist*innen waren die Rollen bei diesem gewohnheitsmäßig stattfindenden Aufregungsspektakel klar verteilt. Hier die Armutsaktivist*innen und Journalist*innen, die mit Faktenchecks und Widerspruch zu belegen versuchen, was eh allen klar ist: Nehammer ist eine Tröte.
Was jede Tröte aber gemein hat: Sie braucht einen Raum, in dem sie Hall erzeugen kann. Eine Art Echokammer: Foren und Timelines, Kommentarspalten und Instagram-Storys, in denen ein riesiges Empörungsspektakel einsetzt.
Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien sein erstes Buch »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen reflektiert. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. David studiert in Hildesheim literarisches Schreiben. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen.
Die Folgen dieses Spektakels sind meist überschaubar. Am besten war das in den vergangenen Wochen am Beispiel von Hubert Aiwanger zu sehen, der Vize-Ministerpräsident von Bayern und Chef der Freien Wähler, der beschuldigt wurde, in seiner Schulzeit ein antisemitisches Flugblatt verteilt zu haben. Vor dem Skandal um den Nazitext von Hubert Aiwangers Bruder dümpelten die Freien Wähler bei elf Prozent; nun haben sie in Umfragen bis zu 17 Prozent. Das hat mit der Aufmerksamkeit durch die Medien zu tun. Wenn wir glauben, dass wir durch kritische Einordnungen AfD und Co. kleinkriegen oder gar armenfeindliche Narrative beseitigen können, dann haben wir uns geschnitten, denn die Welt funktioniert so nicht.
Dekonstruktion, also die kritische Auseinandersetzung mit einem Thema (in diesem Beispiel der Skandal um Aiwanger), ist zwar eine Aufgabe von Medien, in ihr aber die Lösung von sozialen Problemen zu suchen, ist politisch naiv. Faktenchecks ändern nichts zum Guten.
Wenn jemand in Ihre Stadt kommt und überall Scheiße verteilt und Sie die ganze Zeit damit beschäftigt sind, der Scheiße hinterherzuräumen, die jemand anderes auf die Straße gekübelt hat, dann verbringen Sie Ihre Zeit mit Scheiße. Das heißt auch, Sie arbeiten in der Zeit nicht an eigenen Projekten, die sich mit der Frage beschäftigen, wie die Welt eigentlich beschaffen sein sollte.
Ich glaube, dass die Narrative des Neoliberalismus – und mit solchen haben wir es im Beispiel des Videos zu Karl Nehammer zu tun – nicht besiegt werden können, indem man sich mit ihnen beschäftigt, sondern indem man möglichst starke Gegenprojekte aufbaut.
In Armuts- und Klassendiskursen wird viel Zeit aufgewendet, um zu beweisen, dass der Sozialchauvinismus – sprich: das Nachuntentreten – überflüssig ist. Es wird erklärt, dass wir in einer Erb*innengesellschaft und nicht in einer Leistungsgesellschaft leben. Es wird erklärt, dass arme Menschen nicht fauler sind als reiche. Es wird gerechtfertigt, warum Armutbetroffenen ein würdevolles Leben zusteht. Ich habe mich lange Zeit daran beteiligt und glaube jetzt, dass es ein Fehler war.
Reiche sind keine Arschlöcher, weil sie moralisch verkommene Einstellungen vertreten, ihre Position in unserer Gesellschaft lässt sie so argumentieren, wie sie es tun. Das nennt man Interessengegensatz. Karl Nehammer und seine Parteikolleg*innen erfüllen mit ihrem Sozialchauvinismus eine Funktion: Mit ihren Angriffen gegen arme Menschen liefern sie eine Rechtfertigung für die Ungleichverteilung von Gütern, Bildung, Geld und Produktionsmitteln.
Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, ihnen das eben genannte wegzunehmen. Davon haben Sie und ich eindeutig mehr, als dieses flüchtige Gefühl der moralischen Überlegenheit zu genießen.
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