• Politik
  • Buch über Arbeitskämpfe

Die Entmystifizierung der Streiks

Arbeitskampfexperte Heiner Dribbusch blickt auf die vielfältige Geschichte der Streiks im Deutschland des 21. Jahrhunderts

Dresden 2003: Drei Tage lang wird der Autozulieferer Federal Mogul bestreikt. Und das, obwohl die Mehrheit der Belegschaft sich dagegen ausgesprochen hat. Die Arbeitsbedingungen gelten am Standort als sehr gut. Ein Streik könnte sie in Gefahr bringen. Das Management lässt einige der 330 Mitarbeiter*innen per Hubschrauber über die Streikposten an ihren Arbeitsplatz fliegen.

Gestreikt wurde für die 35-Stunden-Woche in der Metall- und Elektroindustrie in Ostdeutschland. Der Arbeitskampf scheiterte mit traumatischen Folgen nicht nur für die ostdeutsche IG Metall. Der bereits bestehende Mitgliederrückgang verdoppelte sich. Nie wieder hat es seitdem einen Erzwingungsstreik der IG Metall gegeben.

Berlin 2016: Nach elf Tagen endet der Streik der nichtärztlichen Beschäftigten an der Charité erfolgreich mit einer Entlastungsvereinbarung. Es war der Anstoß, dem bisher 25 Kliniken zu ähnlichen Tarifverträgen gefolgt sind. Mittels kampagnenartigen Designs setzten die Arbeitskämpfe, die häufig in Erzwingungsstreiks gipfelten, unter zum Teil erheblichem Aufwand darauf, die Belegschaft nicht nur an der Durchführung, sondern auch an der Gestaltung zu beteiligen.

Diese Beispiele können die Bandbreite des Streikgeschehens nur andeuten, dessen Entwicklung Heiner Dribbusch in seinem neuen Buch nachspürt. Der Autor war fast 20 Jahre lang Arbeitskampfexperte des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung. Bis heute meldet er sich regelmäßig in der sozialistischen Gewerkschaftszeitung »Express« zu Wort.

Streik ist nicht gleich Streik, lautet eine von Dribbuschs Thesen, die in ihrer Einfachheit bestechend sind. In den Tarifrunden des öffentlichen Dienstes, die Millionen Beschäftigte adressieren, gehören Warnstreiks zum Ritual. Im Kampf um eine allererste Tarifvereinbarung kann ein erstes kurzes Niederlegen der Arbeit für alle Seiten eine nahezu unvorstellbare Eskalation bedeuten. Dazwischen liegen Welten.

Im Zuge der Transformation der Arbeitsgesellschaft, in der zunehmend die Dienstleistungsbranchen gegenüber Fertigung und industrieller Produktion dominieren, hat sich auch das Streikgeschehen immer stärker dorthin verlagert. Im von Dribbusch betrachteten Zeitraum ist die Anzahl der durch Streiks ausgefallenen Arbeitstage gesunken, die Häufigkeit der Auseinandersetzungen und die Zahl der Beteiligten haben hingegen leicht zugenommen. Nur jede*r Zehnte allerdings hat selbst mal gestreikt.

Dribbusch will nicht agitieren. Er teilt seine Beobachtungen mit uns. »Streik« ist Chronik und Enzyklopädie in einem. Leider fehlt ein Stichwortregister. Und zum Teil ist die Lektüre der Entwicklungen in der Breite mühselig. Häufig sind diese Auseinandersetzungen für Beobachtende unspektakulär. Aber gerade Dribbuschs sachlicher Ansatz macht den Wert seiner Betrachtungen aus. Wir lernen die Rolle von Streiks in Deutschland zu verstehen, erhalten Einblick in die Perspektive der Gewerkschaften. Dribbuschs Blickwinkel scheinen unerschöpflich.

Die häufig anzutreffende Überhöhung von Streiks, das wird deutlich, ist ihm zuwider. Arbeitskämpfe seien Möglichkeiten, kollektive Interessen zu artikulieren und durchzusetzen. Streiks sind dabei in der strategischen Arbeitskampfführung ein Mittel von vielen, stehen oft am Ende von Eskalationsbewegungen. Diese aber enden in der Regel in Kompromissen, ohne dass ein Streik nötig wird. Entscheidend ist für Dribbusch, dass die Beschäftigten hinter den Aktionen und Ergebnissen stehen.

Das Streikmonopol liegt bei den sozialpartnerschaftlich ausgerichteten Gewerkschaften. Die rechtliche Regulierung der Tarifordnung mache Streiks in Deutschland zu befriedenden Einrichtungen, die den Akteur*innen das Klassenverhältnis zwar offenbare, aber für sich genommen keine Perspektive eröffne, es aufzubrechen, so Dribbuschs ernüchternde These. Sein vorliegendes Werk bietet einen guten Grundstock, in den Betrieben eine Verschiebung der bestehenden Grenzen in Sachen Arbeitskampf zu diskutieren oder gar zu erproben.

Heiner Dribbusch: Streik. Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000. Daten, Ereignisse, Analysen. VSA, 376 S., 29,80 €.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.