Das Iwano-Frankiwsker Phänomen

Ein Bürgermeister einer antisemitischen Partei regiert die vielfältige, auch jüdisch geprägte Partnerstadt Potsdams in der Ukraine

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.
Iwano-Frankiwsk ist eine schöne Stadt mit einem Schönheitsfehler: Bürgermeister Ruslan Marcinkiw von der rechtsextremen Swoboda-Partei
Iwano-Frankiwsk ist eine schöne Stadt mit einem Schönheitsfehler: Bürgermeister Ruslan Marcinkiw von der rechtsextremen Swoboda-Partei

Iwano-Frankiwsk ist eine Stadt weit im Westen der Ukraine. Die polnische Grenze befindet sich kaum 200 Kilometer entfernt. Das ist wenig in einem so riesigen Staat. Die neue Partnerstadt Potsdam ist gut 1000 Kilometer entfernt und damit etwa genauso weit weg wie die Front im Krieg mit Russland. Trotzdem blieb Iwano-Frankiwsk nicht unberührt von den Kampfhandlungen. Es bekam gleich am ersten Tag des Angriffs, dem 24. Februar 2022, Luftschläge ab.

Potsdams Baubeigeordneter Bernd Rubelt (parteilos) will nicht warten, bis Frieden ist, um beim Wiederaufbau zu helfen. Was geschehen soll und wie, muss noch beraten werden. Gemeinsam mit dem Stadtverordneten Pete Heuer (SPD) möchte Rubelt außerdem zügig einen Freundeskreis gründen – noch Ende dieses Jahres oder Anfang des kommenden.

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Ein Jahr ist es jetzt her, dass Professor Alexander Wöll von der Universität Potsdam, seines Zeichens Vorsitzender der Assoziation deutscher Ukrainisten, und Klaus Harer vom Kulturforum östliches Europa bei Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) anklopften. Ob es eine Chance für eine Städtepartnerschaft mit Iwano-Frankiwsk gäbe, wollten sie wissen. Der Oberbürgermeister habe nicht überzeugt werden müssen, erinnert sich Harer. Am 22. April 2023 unterschrieben der extra in die Ukraine gereiste Schubert und Bürgermeister Ruslan Marcinkiw den Partnerschaftsvertrag.

Der Baubeigeordnete Rubelt gehörte zur Delegation und berichtet, wie er die polnische Grenze zu Fuß mit ukrainischen Soldaten überquerte, die nach ihrer Ausbildung in Deutschland unterwegs zum Fronteinsatz waren. Die kyrillischen Schriftzüge an den Fassaden von Iwano-Frankiwsk kann Rubelt nicht entziffern. Er stammt aus Westdeutschland und hatte anders als alteingesessene Potsdamer keinen Russischunterricht. Aber fasziniert hat ihn die Stadt. Er ließ sich dort zu dem Trinkspruch hinreißen, dass die Ukraine in Europa ganz nach vorn kommen könnte, »weil ich so viel Kraft gesehen habe«. Im Moment ist die Ukraine allerdings das ärmste Land des Kontinents – und je länger der Krieg andauert, umso schlimmer wird es.

Professor Wöll schwärmt am Mittwochabend bei einer Veranstaltung in der brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung, Iwano-Frankiwsk sei eine junge, gut organisierte Stadt, voller Kultur, aber auch voller Flüchtlinge. In besonders hohen Tönen lobt Wöll die trotz aller Schwierigkeiten funktionierende Stadtverwaltung. Er erwähnt dabei mit keinem Wort den Mann, der an der Spitze der Stadtverwaltung steht. Denn Bürgermeister Marcinkiw gehört der vielfach als rechtsextremistisch und antisemitisch eingestuften Swoboda-Partei an und soll sich auch selbst einschlägig geäußert haben.

Im Potsdamer Rathaus scheint man das peinlicherweise schlicht nicht auf dem Schirm gehabt zu haben und wollte dann keinen Rückzieher mehr machen, als es durch Hinweise an verschiedene Tageszeitungen öffentlich wurde. Die Städtepartnerschaft sei ein auf Dauer angelegter Austausch zwischen den Einwohnern, keine politische Partnerschaft mit dem aktuellen Bürgermeister, hieß es rechtfertigend. Oberbürgermeister Schubert und andere aus der Delegation sollen sich in Iwano-Frankiwsk klar gegen nationalistische Tendenzen ausgesprochen haben. Allerdings lässt sich Bürgermeister Marcinkiw gedanklich nicht so einfach von der Bevölkerung trennen, die einen wie ihn in dieses Amt gewählt hat.

In einer entschuldigenden Erklärung wird der humanistische Geist von Iwano-Frankiwsk beschworen. Ausdrücklich genannt werden der Schriftsteller Jurij Andruchowytsch, der sich auch als Übersetzer hervortat, und seine Tochter Sofia, die einen Schlüsselroman zur Shoa verfasste, also zur Ermordung der Juden in der Nazizeit. Auch Halyna Petrosanyak wird genannt. Sie hat in Iwano-Frankiwsk gelebt und gearbeitet, hat dort Germanistik und Russisch studiert. Petrosanyak übertrug die »Sonette an Orpheus« von Rainer Maria Rilke ins Ukrainische und verfasste eigene Gedichte. Sie lebt inzwischen in der Schweiz und ist am Mittwochabend in Potsdam in der Landeszentrale für politische Bildung. »Das ist mir sehr wichtig, dass ich hier heute über meine Lieblingsstadt sprechen darf«, leitet sie dort ihren Vortrag ein.

Petrosanyak berichtet über den Künstlerkreis, der sich in den 80er Jahren in Iwano-Frankiwsk um Jurij Andruchowytsch bildete. Es war die Zeit der »Glasnost«, der neuen Offenheit, mit der Staatschef Michail Gorbatschow die Sowjetunion reformieren wollte. Plötzlich erschienen die Werke von Autoren wie Franz Kafka und Samuel Beckett, die bis dahin nicht zu haben waren. Der kulturell interessierte Ingenieur Juri Izdyk fertigte in Handarbeit die Zeitschrift »Tschetwer« (Donnerstag). Das war der Tag, an dem Izdyk regelmäßig nach Iwano-Frankiwsk kam, um die aktuelle Ausgabe fertigzustellen. Vervielfältigt wurde sie dann auf dem einzigen Kopierer der Stadt – und der befand sich ausgerechnet bei der Staatsanwaltschaft. Alle, die danach wichtig geworden seien für die ukrainische Kulturszene, publizierten Texte in »Tschetwer«, erzählt Petrosanyak. Sie selbst stieß erst in den 90er Jahren dazu. Ein Foto zeigt sie als junge Frau mit dem neun Jahre älteren Jurij Andruchowytsch und anderen.

Der mittlerweile 63-jährige Andruchowytsch sei in Deutschland nicht so bekannt, aber in Polen sehr populär, bestätigt Literaturwissenschaftlerin Magdalena Marszałek, die an der Universität Potsdam lehrt. Über Petrosanyak sagt Marszałek, diese habe sich selbst bescheiden nur am Rande erwähnt, obwohl sie sehr prägend für den Tschetwer-Kreis gewesen sei.

Man spricht vom »Stansilauer Phänomen«, da eine mit 230 000 Einwohnern relativ überschaubare Stadt so viele bedeutende Künstler hervorbrachte. Stanislau, das ist der alte Name von Iwano-Frankiwsk, das bis zum Ersten Weltkrieg zu Österreich-Ungarn gehörte, bis zum Zweiten Weltkrieg zu Polen und dann zur Sowjetunion. Deutsche, Polen, Juden und Ukrainer haben Spuren hinterlassen. 1962 wurde die Stadt nach dem Autor Iwan Franko (1856-1916) benannt. Der fasste die meisten seiner zahlreichen Werke in ukrainischer Sprache ab, schrieb aber auch polnisch, deutsch, russisch, bulgarisch und tschechisch.

Der Tschetwer-Kreis blühte in einer besonderen Atmosphäre, die sich aus der kulturellen Vielfalt der Stadt ergibt – und zu der ein engstirniger, nationalistischer Bürgermeister so gar nicht zu passen scheint. Halyna Petrosanyak lädt ein, die Stadt zu besichtigen. Sie möchte die Besucher dann gern persönlich herumführen. Aber dafür müsste endlich Frieden herrschen.

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