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Frank Witzel: Traurige Rekorde
Die Suche nach Gesetzen gebiert vielleicht Monster: Frank Witzel erzählt von den »Orten des Versagens«
Wie das Gefühl zu versagen in die Welt kam, seit wann es Menschen lähmt und sie in ihre Köpfe zurückzwängt, ist eine von den Erwachsenen meist effizient verdrängte Frage, über die man sinnieren und spekulieren kann. In den »Aufzeichnungen eines russischen Revolutionärs« (Distillery, 2006, vergriffen) verrät Dmitrij Kostenko (ein Mann, den man kaum googeln kann), dass die Bezeichnung »Versager« eine Beleidigung war, die zu Zeiten der Sowjetunion praktisch nicht existierte, ab 1990 dann aber in aller Munde war. Alle Unproduktiven mit Anpassungsmängeln an die neue Zeit, mit zu wenig Unternehmergeist waren fortan »Versager«.
Im Verlag Matthes & Seitz Berlin erschien kürzlich ein Band mit Erzählungen von Frank Witzel: »Die fernen Orte des Versagens«. Darin finden sich beunruhigende, im besten Sinne realhumanphilosophische Texte, die durch Absurditäten und groteske Handlungselemente meisterlich vermeiden, zum höheren Gequengel zu werden, sich nie im Ennui ergehen. Es ist sinnlos, sich vor Versagensangst das Leben madig machen zu lassen, auch wenn es so bequem sein kann. Aber das klingt schon zu sehr nach Ratgeber.
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Im Deutschen sei das Verb »versagen« zweideutig, erklärt Witzel im Gespräch. Es beinhaltet das »Scheitern«, das Nicht-Gelingen, das Nicht-Schaffen. Wendet man es reflexiv zum »Sich-etwas-Versagen«, kommen Hemmungen ins Spiel, das Auf-Distanz-Gehen, das Widerwillig-doch-sein-Lassen. Über rund zehn Jahre seien diese Erzählungen entstanden. Witzel hat darauf verzichtet, eine Kettenerzählung zu bauen, etwa mithilfe wiederkehrender Figurennamen. Auch versichert er, dass es sich nicht um Romankerne handelt, die nicht wachsen wollten. Stattdessen haben wir es mit Einsamkeitserzählungen zu tun, die alle für sich stehen, die mehr oder weniger freiwillig allein sind – wie die Figuren, um die es geht.
Entwicklungsschwierigkeiten bei pausenloser Selbstreflexion, das verbindet wiederum viele der Erzähler in diesem Buch. Es sind durchweg Männer, deren Stimmen wir folgen. Den Anfang macht ein rund 80 Seiten langer Brief eines Autors an seinen Verleger, in dem er sein »Verfehlen« darlegt: Er kann einen Band mit Erzählungen nicht abschließen. Dabei handelt es sich um keine Meta-Ebenen-Witzelei: Der Autor, dessen Namen wir erst am Ende seines Textes als Signatur unterm PS erfahren, führt einen performativen Widerspruch vor, man könnte vom Weiter-Scheitern sprechen. Angeregt durch einen Aufreger, einen blöden Blurb auf einem Thomas-Bernhard-Band, verbarrikadiert sich dieser Schriftsteller hinter seinen Sätzen, schneidet sich den Weg selber ab.
Er windet sich syntaktisch, ohne eine zwischenmenschliche Situation zu entwickeln, regt sich über die Beschissenheit dieser von Deppen eingerichteten Welt auf, beispielsweise über »Erstsemester-Architekten« von Krankenhäusern, und führt dann doch pflichtschuldig seine »Erzählstümpfe« vor, die irgendwo zwischen Derrick-Plot-Synopsen und Thomas Bernhards »Ereignisse«-Kurzprosa changieren. Er spult die Geschichten ab, in die er sich monomanisch nicht hineinbewegen wollte, öffnet sie wie schäbige Schatullen.
Wider besseres Wissen wird geschrieben, er kommt nicht raus aus der Textproduktion, wo ihm doch längst eine Erkenntnis zuteil ward, über die er nicht hinwegkommt: »Ich bin, so glaube ich zumindest, auf das dunkle Geheimnis der Literatur gestoßen, den Grund für das Scheitern so vieler Existenzen, dass nämlich die Fähigkeit, komplizierte Sachverhalte und komplexe Theorien zu formulieren, bedauerlicherweise nicht die Fähigkeit miteinschließt, wahlweise die eigene Bedürftigkeit oder eigene Unfähigkeit, die sich auf gewisse Weise beide bedingen, artikulieren zu können. Es ist erschreckend simpel: Ein Romancier kann ein Familienleben schildern, ohne eine Familie gründen zu können, ein Philosoph kann über Charakterwandel nachdenken, ohne zu einer Selbsttherapie fähig zu sein, ein Soziologe die Liebe analysieren, ohne je geliebt zu haben, und so weiter.« Dieses Geheimnis sei aber »keineswegs deshalb so dunkel, weil es so geheim wäre«, sondern so offensichtlich, dass »immer wieder aufs Neue von allen Beteiligten verschwiegen werden muss, weil sonst das letzte simulierte Fädchen des bereits fadenscheinigen Konstrukts unserer Weltordnung reißen und uns damit die letzte, wenn natürlich auch lediglich imaginierte Möglichkeit zur Orientierung rauben würde.«
Die zweite, ebenfalls umfangreiche Erzählung »Aus dem Alltag eines Empiriokritikers« trägt eine Anspielung an Lenins Traktat aus dem Jahre 1908 im Titel. Nach dem Tod seiner Schwester gerät ein Mann ins Grübeln, der unter der »Pointenlosigkeit« der Existenz leidet und sein Gefühl »grundloser Überlegenheit« reflektiert. Er imaginiert sich Geschichten über einen wenig geschätzten, weil bevormundenden Arbeitskollegen namens Herrn Roth, den er allerlei unangenehme Szenen durchleben lässt, sich beispielsweise vorstellt, wie Herr Roth das Denken verlernt, seine Doktorarbeit abbricht, sich ein bisschen für die DDR interessiert.
Dass diese kunstvollen, aber fiesen Fantasie-Episoden aus einem langweiligen Leben etwas Kompensatorisches haben, drängt sich auf. Dabei gelingt dem Erzähler eine brillante Analyse der Langeweile, ohne dass er daraus Schlüsse ziehen könnte: »Während die Langeweile beinahe jeden jederzeit befallen kann, gibt es wenige Menschen, die von ihr verschont bleiben. Es sind die sogenannten Langweiler, die selbst keine Langeweile verspüren, weil sie anderen dieses Gefühl aufbürden. (…) Lernt man ihn kennen, so erscheint der Langeweiler durchaus freundlich, weil es seiner Wesensart entspricht, seinem Gegenüber nichts entgegenzusetzen, bis man bemerkt, dass der Langeweiler mit etwas noch viel Schlimmerem als einer anderen Meinung oder einer Provokation zu Werke geht, nämlich mit besagter Langweile.«
In diesem Buch finden sich tieftraurige Paargeschichten mit gegenseitigem Verfehlen und Quälen und teils unbeabsichtigtem Töten. Man lernt die Leder-Obsessionen eines Leberfleckenmanns kennen und lässt sich von einem zwanghaft fein gekleideten Anwalt seine private Rechtsphilosophie beibringen, in der es dann doch beiläufig und mit Lehrerernst um Masturbation gehen muss, und Definitionen zeitigt wie: »Die Frau ist Metaphysik, der Mann Rechtswissenschaft.« Die Suche nach Gesetzen gebiert vielleicht auch Monster. »Unsere Ehe ist ein musikalisches Opfer, das wir nach dem vorgegebenen Thema unserer Anlagen auskomponieren.«
Es gelingt Witzel immer wieder, glaubwürdig-unzuverlässige Erzähler zu finden, die aus Unsicherheit, Geisteskrankheit und/oder zwanghaftem Kalkül, einerseits stimmige, andererseits bodenlose Welten konstruieren. Der letzte Text, »Traurige Rekorde«, handelt von einem Mann, der erstmals seit Jahren die psychiatrische Anstalt verlässt, in der er schon länger lebt, und versagt an dieser Freiheit. Er sucht eine Frau, die ihn, ihm zufolge, einmal küsste, entwickelt eine Obsession mit der FDP und denkt am Ende doch die ganze Zeit über die behauptete Religionsgründung seiner Mutter nach. Er entwickelt die Angst zu versäumen, was er in dem Moment versäumt, wenn er vergisst, was er versäumt.
Das mag absurd sein, aber Witzel schafft es in den Erzählungen, keine Versager vorzuführen, die man gütig belächelt. Denn die Erzähler, die Figuren versagen nicht, weil ihnen eine große Karriere verwehrt bleibt und sie deshalb gewisse Rollen oder Funktionen nicht einnehmen können. Sie versagen an sich selbst, weil die Welten, in denen sie sich bewegen, die Geschichten, die sie mitmachen, aus Orten des Versagens bestehen: Büros, Reihenhäuser, Anstalten, Einsambleiben in Gesellschaft, wo Skepsis keinen Mucks macht und sich privatisierende Obsessionen bilden. Sie wollen die Sicherheit der Zwänge unter Verzicht auf Lebensformausbruch und seelische Frischluft. Frank Witzel ist ein bedrückendes wie lustiges, kluges wie absurdes Buch gelungen, eben ohne jede Spur erzählerischer Bevormundung.
Frank Witzel: Die fernen Orte des Versagens.
Matthes & Seitz, 346 S., geb, 25 €.
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