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Adania Shibli: Schwirrende Hitze, Krieg und Gewalt

Warum Adania Shibli ihre Literaturpreis nicht auf der Frankfurter Buchmesse erhielt

  • Helge Meves
  • Lesedauer: 5 Min.

Adania Shibli wurde für ihren Roman »Eine Nebensache« mit dem Literaturpreis der Frankfurter Buchmesse ausgezeichnet, der ausschließlich an Autorinnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und der arabischen Welt vergeben wird. Die Autorin ist eine Israelin aus Obergaliläa und arabisch-palästinensischer Herkunft. Vorher war ihr Roman für den britischen International Booker Prize und den US-amerikanischen National Book Award nominiert, wurde in etliche Sprachen übersetzt und erschien 2022 in der Übersetzung von Günther Orth bei Berenberg in Berlin. Knapp über hundert Seiten kurz und gefeiert in unzähligen Besprechungen weltweit.

Die Preisverleihung auf der Buchmesse wurde jedoch kurzfristig auf unbestimmte Zeit verschoben, nachdem ihrem Roman die Verwendung antisemitischer Stereotype nachgesagt worden war. Und nach den Terrorangriffen der Hamas auf Israel gilt die Prämierung zurzeit als unpassend. Preise und ihre Verleihungen sollten auch dazu dienen, etwas sichtbarer zu machen.

Der erste Teil des Romans beginnt mit Hitzeflirren im Negev. Ein Militärtrupp soll die Wüste von etwaigen verbliebenen Arabern säubern, um verdeckte Spionage und Sabotage gegen das eben gegründete Israel zu verhindern. Zelte werden aufgeschlagen am Rand der durch den ersten Beschuss fast vollständig zerstörten Siedlung. Zwei Hütten stehen noch, in eine zieht der Zugführer ein. Bei der ersten Patrouillenfahrt finden die Soldaten nichts. Bei einer späteren Suche treffen sie an einer Quelle ein paar unbewaffnete Araber mit Kamelen. Sie erschießen alle, die Araber und die Kamele verbluten im Sand. Die einzig Überlebende ist eine junge Frau, auf dem Boden liegend ein wimmerndes schwarzes Bündel.

Der Zugführer ist fast im Delirium, hat Schmerzen, Fieber, Krämpfe durchzucken ihn. Er wurde von einem Skorpion gebissen. Der Trupp bringt das Mädchen in die zweite Hütte. Der Zugführer stellt eine Wache vor die Hütte und droht allen, die sich dem Mädchen nähern sollten, mit seiner Waffe. Dann kommen wieder seine Krämpfe hoch. Alles gerät außer Kontrolle, Maßstäbe gibt es nicht. Das Beduinenmädchen wird gedemütigt, kahlgeschoren, ausgezogen, mit Wasser überschüttet, der Kopf wird mit Benzin gewaschen. Irgendwann danach beginnen die Männer, sich an ihm zu vergehen. Erst sind es Einzelne, dann wird der Militärtrupp in drei Gruppen eingeteilt, die nacheinander »ran« dürfen – eine Massenvergewaltigung, tagelang. Am Schluss erschießen die Soldaten das Mädchen. Der Todestag der jungen Araberin ist der 13. August 1949.

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Der erste Teil des Romans beschreibt außergewöhnlich nüchtern diese Gräueltat. Alles ist karg, die Hitze wird greifbar, alles in der Wüste lebt, Spinnen und Insekten sterben. 25 Jahre nach dem Sexualmord wird auf den Tag genau eine Palästinenserin geboren. Sie liest eine Rekonstruktion dieser Tage der Flucht und Vertreibung von etwa 700 000 arabischen Palästinensern aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina im Jahr 2003 in der Tageszeitung »Haaretz« (https://www.haaretz.com/2003-10-29/ty-article/i-saw-fit-to-remove-her-from-the-world). Sie kommt nicht los davon, macht sich im zweiten Teil des Romans auf die Suche. Sie telefoniert mit dem israelischen Journalisten, der diesen Bericht veröffentlicht hat, beginnt die Quellen zu recherchieren. Nach seiner Auskunft ist alles in den Militärarchiven nachlesbar.

Die Archive sind in den B-Zonen, wofür sie einen blauen Ausweis bräuchte. Sie hat einen grünen Ausweis für die A-Zonen Israels. Eine ihr äußerlich ähnliche Kollegin hilft ihr mit ihrem blauen aus. Ins Auto nimmt sie drei Karten mit. Eine politische mit der Einteilung der vier verschiedenen Zonen nach den Oslo-Verträgen von 1993, eine palästinensische von 1948 und eine vom israelischen Tourismusministerium mit den Straßen, Wohngebieten und neuen Ortsnamen aus israelischer Sicht. Die Fahrt wird waghalsig allein der Umwege um verschiedene Zonen wegen und bei jeder der regelmäßigen Militärkontrollen kommt die Angst hoch. Sie erreicht das Archiv und hört dort als erstes die Legende, dass das Mädchen in einem Brunnen gefunden worden sei, wie es bei einem muslimischen Femizid üblich sei. Irgendwann verirrt sie sich in der Nähe eines neuen Militärlagers, das in keiner Karte verzeichnet war – der Roman bricht abrupt ab.

Die Vorwürfe gegen das Buch sind kaum nachvollziehbar. Maxim Biller hält ihn für ein unliterarisches Stück Propaganda. Den letzten Satz des Romans liest er als Erschießung der recherchierenden Palästinenserin durch Soldaten und hält das für zu symbolträchtig. Das bleibt aber offen. Dieser eine Satz in der Perspektive der Protagonistin ist der Satz einer verängstigten Frau, die den ganzen Tag nichts gegessen hat, unterzuckert ist und teils halluziniert. Auch der Vorwurf, dass die Soldaten alle gesichts- und namenlos sowie brutal seien, greift nicht. Die beiden arabischen Protagonistinnen bleiben ebenso gesichts- und namenlos. Die »Taz« kritisiert, dass in dem Roman keine Berichte über palästinensische Verbrechen Platz finden.

Das Buch erschien 2017, und die Handlungen spielen 1949 und nach 2003. 600 Intellektuelle, unter ihnen die Literaturnobelpreisträger Annie Ernaux, Abdulrazak Gurnah und Olga Tokarczuk protestierten gegen die Verschiebung der Preisverleihung. Zu dieser Debatte gehören auch die Reaktionen auf die Rede Slavoj Žižeks. Der slowenische Philosoph des diesjährigen Gastlandes verurteilte die Verbrechen der Hamas klar und deutlich, erinnerte aber an den seit Jahrzehnten schwelenden Israel-Palästina-Konflikt. Peter Ullrich beklagte im »nd«, dass schon der kleinste Verweis auf den Kontext der realen Eskalation als Relativierung oder Verteidigung des Terrors gebrandmarkt wird.

Ohne ein Mindestmaß an Empathie für die Opfer gleich welcher Herkunft wird der gordische Knoten des Nahost-Konflikts nicht aufzulösen sein. Für Bücher über Gewalt und Krieg und die Frage, wie darüber gerecht geschrieben werden kann, sollten wir dankbar sein.

Adania Shibli: Eine Nebensache. Berenberg, 128 S., geb., 22 €.
Unser Autor ist Schriftsetzer, Soziologe, Lehrbeauftragter für Politische Ideengeschichte am Otto-Suhr-Institut in Berlin und arbeitet als Referent für die Linkspartei; seine Publikationen
befassen sich mit Utopien, Religionen und Parteien.

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