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  • Banlieues und Widerstand

Versuchen, nicht durchzudrehen

»Zwei Sekunden brennende Luft« von Diaty Diallo ist ein mitreißender Debütroman über das Aufwachsen in den Banlieues zwischen Jargon und Poesie

  • André Dahlmeyer
  • Lesedauer: 6 Min.
»Müssen uns organisieren/ unsre eignen Sachen machen«: Jugendliche in einem Banlieue, sitzend und denkend.
»Müssen uns organisieren/ unsre eignen Sachen machen«: Jugendliche in einem Banlieue, sitzend und denkend.

Gegenüber den Unterdrückern können wir uns Nuancen nicht leisten. Hier muss die Rede sehr klar und radikal sein, denn wir befinden uns durch den Aufstieg der extremen Rechten in einer radikalen Zeit«, heißt es schon im Klappentext des Romans der französischen Autorin Diaty Diallo, »Zwei Sekunden brennende Luft«. Eines der Eingangszitate lautet: »Müssen uns organisieren/ unsre eignen Sachen machen/ Bevor alles explodiert/ müssen wir uns bewaffnen/ Ich bin stark für die Brüder, die Sterne/ meine einzigen Wegweiser/ Rückkehr zu den Pyramiden,/ Jahrhunderte später (X-Men, Retour aux pyramides)«. Damit ist der Rahmen klar abgesteckt – man erwartet Unversöhnliches, Aufrüttelndes, etwas, das Mut macht. Ein Roman aus den und über die französischen Banlieues.

Es ist der Debütroman von Diaty Diallo. Sie ist 34 Jahre alt und in den Pariser Banlieues aufgewachsen, wo sie heute noch lebt und als Bibliothekarin arbeitet. »Zwei Sekunden brennende Luft« handelt von einer Gruppe von Heranwachsenden, von Astor und seinen Freunden Chérif, Issa, Demba und Nil, alle dunkelhäutig. Die Autorin gibt uns Einblick in deren Welt, irgendwo in einem namenlosen Arbeiterviertel, vielleicht bei Paris, auf jeden Fall in der Banlieue.

Zwischen gesichtslosen Hochhäusern spielt sich der Alltag der Jugendlichen ab, auf einer Betonplatte, in deren Zentrum eine Art Pyramide thront. Ein verwittertes Kunstwerk, wie es auch auf dem Place des Fêtes in Paris zu finden ist. Man könnte sich aber auch vorstellen, diese Pyramide sei ein Flugverkehrskontrollturm, der die Menschen auf und die Flugzeuge über dem Platz überwacht.

Unter dem Platz liegt ein stillgelegtes mehretagiges Parkhaus, das von Anwohnern für Techno-Partys genutzt und also verschönert wird. Tanzen gegen die Ödnis. Ansonsten passiert nicht viel, also nichts Wesentliches. Man trifft sich, hört Musik, platziert die Campingstühle, grillt, träumt von der ersten Liebe oder einem schnellen Fick, freut sich des Lebens und an dem Viertel, hilft sich gegenseitig, wo man kann, schließlich kennt man sich schon ewig. Manches wird freiwillig geteilt, ein kleines Wasserpfeifchen etwa, anderes, wie die schikanösen, unablässigen Polizeikontrollen, wird hingenommen – was soll man tun? Hin und wieder gehen Autos in Flammen auf.

Die Freunde merken: Sie haben die falsche Hautfarbe. Immer wieder werden sie von der Staatsmacht ohne erkennbaren Grund drangsaliert, angegriffen und vor allem mit demütigenden Identitätskontrollen überzogen, was die Frustration steigert. Als einer der jungen Leute, Issa, von der Polizei zusammengeschlagen und festgenommen wird, ist es vorbei mit der zeitweiligen Beschaulichkeit. Unmittelbar darauf wird ein Junge von der Polizei erschossen.

In der Folge beschreibt Diaty Diallo psychologisch dicht, wie Freunde und Hinterbliebene im Viertel mit ihrer Trauer umgehen, versuchen, nicht durchzudrehen. Parallel dazu bereiten die Jugendlichen mit akribischer Genauigkeit und im Kollektiv einen eher symbolischen Aufstand vor; sie vernichten etwas, das man ohnehin plant ihnen wegzunehmen – auf eine Art ein Akt der Autarkie.

In Frankreich erschien »Zwei Sekunden brennende Luft« bereits 2022 bei Éditions du Seuil, kam unter die acht Finalisten des Nachwuchswettbewerbs Prix Médicis und wurde für den Prix du Roman des étudiants von France Culture/Télérama nominiert. Ein Dreivierteljahr darauf begannen die schweren Unruhen (in den deutschen Qualitätsmedien stiefmütterlich und verzerrt behandelt), nachdem der 17-jährige Nahel während einer Polizeikontrolle getötet worden war.

Polizeigewalt in Frankreich ist nichts Neues, indes zeigen sich die Reaktionen von Teilen der Bevölkerung immer kruder. Diaty Diallo zum Tod von Nahel: »Es gibt eine Spendensammlung, um einen Mörder zu schützen, von dem wir ausnahmsweise einmal Bilder haben. Wir sehen live eine Hinrichtung, und die Franzosen spenden dafür 1,6 Millionen.« In Zeiten eines völlig ausufernden, allumfassenden Krieges der Deutungshoheit wundert einen das tatsächlich nur noch wenig.

Wenn Diallo, wie in einem Interview geschehen, anmerkt, die Übergriffe der Staatsmacht erschwerten es den Jugendlichen, erwachsen zu werden, kann man dem nur bedingt folgen. Wahr ist: Sie verbrennen ein paar Jahre. Erwachsen werden sie aber früher, als es normal ist. Auch die Selbstachtung steigt wohl eher bei berechtigtem Widerstand, und berechtigt ist der in dieser Gegend eigentlich immer. Selbst wenn einem die Jugend nur mit dem Staubsauger weggesaugt wird, liegt es nahe, zunächst mal den Staubsauger dafür zu bestrafen. Für dessen Erfinder bleibt immer noch Zeit.

Diallos Thema sind Stigmatisierungen im öffentlichen Raum, eher offener als Alltagsrassismus und die damit wie selbstverständlich einhergehende Repression. Neben Menschen tauchen vor allem Beton, Gehwege, Parkplätze und brachliegende Grundstücke auf, weit und breit nicht mal ein streunender Piepmatz. Fehlen eigentlich nur die Neonröhren und Crystal Meth. Doch auf diese Klischees verzichtet Diallo glücklicherweise.

Schon beim Anlesen visualisiert man vor dem inneren Auge zwei cineastische Klassiker des Genres: »Tee im Harem des Archimedes« (1985 verfilmte Mehdi Charef kongenial seinen eigenen Jugendroman) sowie »La Haine« (»Hass«, 1995) von Mathieu Kassovitz. Auch Diallos Roman schreit nach einer Verfilmung. Doch sie hat eines grundlegend anders gemacht als die beiden Herren: Die Hoffnungslosigkeit trägt bei ihr höchstens Uniform. Ihre Charaktere studieren, verfügen über Fertigkeiten oder haben zumindest starke Interessen. Das macht sie eigentlich unabhängig. Oder unabhängiger. Diallo hat ihnen Werkzeuge zum Überleben mitgegeben.

All das transportiert Diaty Diallo in einem mitreißenden, teils inspirierenden Stil, einem Remix (in diesem Fall: Hybridsprache) zwischen Jugendjargon und einer Poesie, wie man sie früher mal aus Anarcho-Zusammenhängen kannte und schätzte (etwa bei »Züri brennt«): Oralität ohne Folklore.

Angefangen hat sie als Bloggerin, da war sie 15, bei Skyblog, dem ersten sozialen Netzwerk in Frankreich. Interessanterweise ist die Plattform zeitgleich zur deutschen Veröffentlichung von Diallos Roman für immer dichtgemacht worden. Auch in der Fanzine-Szene war sie aktiv. In den Banlieues kennt sie sich aus. Aufgewachsen in Neuilly-sur-Marne, lebt sie heute wieder in Seine-Saint-Denis. Dort erkennt sie sich in der Bevölkerung wieder, die die Geschichte Frankreichs und dessen Kolonien reflektiere. Literarische Bezüge auf die Afrofeministinnen Penda Diouf, Lisette Lombé und Joëlle Sambi liegen auf der Hand.

Die Aufmachung des Buchs oszilliert zwischen 70er-Jahre-Chic und dessen Techno/Tekkno-Revival in den 90ern. In Frankreich ist das Buch wie eine Bombe eingeschlagen. Alles deutet darauf hin, dass die eher literaturignoranten Deutschen gerade über ihren Schatten springen. Unterstützen bitte auch Sie diesen tollen Verlag, das sichert Ihnen mannigfaltigen linken Lesegenuss.

Diaty Diallo: Zwei Sekunden brennende Luft. A. d. Franz. v. Nouria Behloul u. Lena Müller. 192 S., br., 20 €.
Lesungen: 8.11. Basel, Literaturhaus; 23.11. Zürich, Rote Fabrik.

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