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Armut in Deutschland weiter verfestigt
In Deutschland leben immer mehr Menschen deutlich unter der Armutsgrenze
Während die Anzahl der Reichen in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren konstant hoch geblieben ist, hat die Armut kontinuierlich zugenommen – trotz rückläufiger Arbeitslosenquote. Das geht aus einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervor, deren Ergebnisse am Donnerstag vorgestellt wurden. Darin haben die Soziolog*innen Dorothee Spannagel und Jan Brülle die Einkommensverteilung in Deutschland seit 2010 untersucht.
Danach lebten im vergangenen Jahr rund 16 Prozent der Menschen hierzulande in Armut. Vor 13 Jahren waren es rund zwei Prozent weniger gewesen. Als arm gilt, wer nicht mehr als 1200 Euro im Monat zur Verfügung hat; von strenger Armut ist bei einem verfügbaren Einkommen unter 1000 Euro monatlich die Rede. Davon war in Deutschland im vergangenen Jahr rund jede*r Zehnte betroffen. »Der Anstieg an Menschen, die unter strenger Armut leiden, ist deutlich stärker als bei anderen Einkommensgruppen«, erklärte Spannagel am Donnerstag die Ergebnisse der Studie.
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Von Armut sind überwiegend Arbeitslose und Rentner*innen in Ostdeutschland betroffen, wie aus den Zahlen des WSI hervorgeht. Sie machen über ein Drittel der dauerhaft Armen aus. Als dauerhaft arm gilt, wer seit 2017 kontinuierlich unter der Armutsgrenze lebt. Aber auch Arbeiter*innen in prekären Jobs, wie geringfügiger oder befristeter Beschäftigung, sind einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt: 17 Prozent von ihnen leben dauerhaft in Armut. Dies betrifft vor allem Menschen mit Migrationshintergrund stark, vor allem wenn sie nicht in Deutschland geboren sind.
»Vor allem verfestigte und dauerhafte Armut ist gestiegen«, erläuterte Brülle die Forschungsergebnisse der Studie. »Das sind Formen von Armut, die besonders gravierende Folgen haben«, warnte er.
Die Ursachen für die sich verfestigende Armut in Deutschland seien strukturell und teils auf politische Entscheidungen zurückzuführen, wie die Wissenschaftler*innen am Donnerstag betonten. So kritisieren sie die deutliche Zunahme von Niedriglohnjobs seit der Jahrtausendwende, auch bedingt durch die Hartz-Gesetzgebung der damaligen rot-grünen Bundesregierung. Zudem habe es bis zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohns keine Untergrenze für Niedriglöhne gegeben. Dies habe einen flächendeckenden Reallohnverlust verursacht, der durch die kontinuierliche Abnahme der Zahl von Flächentarifverträgen verschärft worden sei.
Zugleich wurden in den vergangenen Jahrzehnten die Steuern für hohe Einkommen und Vermögen erheblich reduziert. So sank der Spitzensteuersatz von 56 Prozent Mitte der 80er Jahre auf heute nur noch 42 Prozent, die Vermögenssteuer ist seit 1997 ausgesetzt. Auch darum habe sich der Reichtum in Deutschland deutlich vermehrt, erklären die Forscher*innen, wobei der Anteil Reicher an der Gesamtbevölkerung sich mit knapp acht Prozent kaum verändert hat. Als einkommensreich gilt, wer im vergangenen Jahr über 4000 Euro im Monat zur Verfügung hatte. Den Forschungsergebnissen des WSI zufolge sind die Reichen in Deutschland oft männlich, leben in Westdeutschland und in kinderlosen Paarhaushalten. Sie haben meistens Abitur und gehen einer unbefristeten Vollzeitbeschäftigung nach.
Von dauerhafter Armut sind der WSI-Studie dagegen mehrheitlich Frauen betroffen, darunter in erster Linie alleinerziehende Mütter und junge Frauen. Ursächlich sei dafür, dass sie häufiger unregelmäßige Erwerbsbiografien mit Phasen der Arbeitslosigkeit oder atypischen Beschäftigungsverhältnissen wie Teilzeit- oder Leiharbeit durchlebten, erklären die Sozialwissenschaftler*innen. Dabei seien sie sozial kaum abgesichert, was langfristig zu niedrigeren Einkommen und zur Verfestigung von Armut in individuellen Lebensläufen führe. Auch darum sind Frauen unter den sogenannten temporären Armen am stärksten vertreten, also unter der Gruppe, die in den vergangenen fünf Jahren unterhalb der Armutsgrenze lebte, aber davon ein Jahr über 1200 Euro zur Verfügung hatte.
Laut WSI sind die Folgen von Armut gravierend. Die Menschen erfahren eine erhebliche Einschränkung im Lebensstandard, sie sind zudem in hohem Maße um ihre wirtschaftliche Situation und Gesundheit besorgt. »Sie heben sich durch eine geringere Lebenszufriedenheit deutlich von allen anderen Gruppen ab«, betonen Spannagel und Brülle in ihrer Studie. Menschen, die dauerhaft arm seien, litten zudem häufiger unter der Geringschätzung durch andere Menschen und mangelnder sozialer Anerkennung.
Das Problem erkennt auch das Bundesarbeitsministerium. Auf nd-Anfrage teilte es mit, dass die Hauptursache von Armut in einem fehlenden oder unzureichenden Erwerbseinkommen liege. Das zentrale Anliegen sei demnach, eine stärkere Arbeitsmarktintegration durch eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit und durch Qualifikationen, hieß es. Zudem wolle man zukünftig die Perspektiven von Armen stärker berücksichtigen.
Die Forderungen der Sozialwissenschaftler*innen vom WSI gehen weit darüber hinaus. Zwar hätten die Entlastungspakete während der Pandemie und der Inflation Armen mit Blick auf die steigenden Energie- und Lebensmittelkosten geholfen. Doch dies sei »ein Tropfen auf dem heißen Stein«, kritisieren die Forscher*innen. Die politischen Ursachen für die wachsende Ungleichheit seien keineswegs beseitigt worden, kritisierte auch der Paritätische Gesamtverband in seinem Armutsbericht im vergangenen Jahr.
»Wir leben im Kapitalismus und darin ist ein gewisses Maß an Ungleichheit inhärent angelegt«, erklärte Kohlrausch am Donnerstag zur Präsentation der Studie. »Aber man kann mehr oder weniger Armut haben, auch wenn man sie nicht wird abschaffen können«, unterstrich sie. Darum sei mit Blick auf die laufenden Haushaltsverhandlungen des Bundes wichtig, dass das Bürgergeld und die Rente ein Leben oberhalb der Armutsgrenze ermöglichten, forderte WSI-Direktorin Kohlrausch. Das Bürgergeld müsse ebenso erhöht werden wie der Mindestlohn. Zudem soll die Bundesregierung sozialversicherungspflichtige und sichere Beschäftigungsverhältnisse sowie das Kinderbetreuungsangebot fördern.
Zur Finanzierung der Umverteilung müssten Reiche und Superreiche stärker belastet werden. So forderten die Wissenschaftler*innen, dass der Spitzensteuersatz angehoben, eine progressive Vermögenssteuer wieder eingeführt und die Schlupflöcher in der Erbschaftssteuer geschlossen werden. Als superreich gilt, wer ein verfügbares Vermögen von knapp einer Million Euro hat.
Sollte die Regierung indes keine Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut einleiten, drohe ein weiterer Vertrauensverlust in die Demokratie, warnen die Forscher*innen. »Die Armut zu bekämpfen, ist darum von gesamtgesellschaftlichem Interesse«, betonte die Direktorin des WSI.
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