Armut frisst Demokratie

Einer neuen Studie zufolge führt Armut zu Misstrauen gegenüber Parteien, Bundestag und Rechtssystem

Die relative Armut in Deutschland verstetigt sich: Immer mehr Menschen leben dauerhaft unter der Armutsgrenze und sind auf Hilfe angewiesen.
Die relative Armut in Deutschland verstetigt sich: Immer mehr Menschen leben dauerhaft unter der Armutsgrenze und sind auf Hilfe angewiesen.

Die soziale Ungleichheit in Deutschland hat in den letzten zehn Jahren weiter zugenommen. Das geht aus einem aktuellen Forschungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervor. Insbesondere die Zahl derer, die unter Armut leiden, hat sich demnach verfestigt. So leben über 16 Prozent der hiesigen Bevölkerung unter der Armutsgrenze, rund zehn Prozent sogar in strenger Armut. Das bedeutet, dass jede*r zehnte Erwachsene in Deutschland monatlich weniger als 1000 Euro zur Verfügung hat. Im Vergleich zum Jahr 2010 ist das ein Anstieg von zwei Prozent.

»Der hohe Anteil von armen Menschen in diesem Land ist besorgniserregend«, warnte die Direktorin des WSI, Bettina Kohlrausch, bei der Vorstellung der Studie. »Einerseits, weil es für Arme ein unhaltbarer Zustand ist. Aber auch, weil es eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist.« Denn insbesondere unter Armen sei ein erheblicher Verlust von Vertrauen in die demokratischen Institutionen zu beobachten.

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Den neuesten Zahlen zufolge misstraue unter den dauerhaft Armen gut jede*r Fünfte der Polizei, und mehr als ein Drittel habe kein Vertrauen in das Rechtssystem. Fast die Hälfte der dauerhaft Armen hätten zudem kein Vertrauen in für die Demokratie zentrale Institutionen wie den Bundestag. Diese Zahl wird nur übertroffen durch das Misstrauen gegenüber Politikern und Parteien. Die liegt sowohl unter den temporär wie unter den dauerhaft Armen bei über 50 Prozent.

»Die Ergebnisse sind wenig überraschend«, sagt die stellvertretende Leiterin des Leipziger Else-Frenkel-Brunswik Instituts, Fiona Kalkstein, im Gespräch mit »nd«. Die Psychologin forscht zu demokratischer Teilhabe und Autoritarismus in Deutschland. »Arme Menschen machen im Alltag oft Erfahrungen, die das Vertrauen in die Institutionen beschädigen«, erklärt sie. »Der Staat tritt armen Menschen häufiger als Institution gegenüber, die ihnen etwas wegnehmen kann.« Dadurch erlebten sie den Staat im Vergleich zu Reichen öfter als Bedrohung. »Und sie werden häufig im Rechtssystem oder im Kontakt mit Behörden diskriminiert«, berichtet Kalkstein. Das erkläre auch das geringe Vertrauen in die Polizei.

Die wachsende Ungleichheit in Deutschland ist dabei nicht nur ein vorübergehender Effekt von Krisen oder einzelnen politischen Maßnahmen, erläutern die Forscher*innen des WSI mit Blick auf ihre jüngste Studie. Es handle sich vielmehr um eine langfristige Folge politischer Entscheidungen der letzten Jahrzehnte, etwa der Hartz-Gesetzgebung unter der damaligen rot-grünen Bundesregierung. Dadurch habe die Zahl an Niedriglohnjobs enorm zugenommen und die soziale Grundsicherung für Arme, wie Erwerbslose oder Rentner*innen habe sich dramatisch verschlechtert. Es sei so immer schwerer geworden, sich aus der Armut zu befreien.

Dass politische Entscheidungen häufig gegen die Interessen von Armen gefällt werden, liegt auch daran, dass das politische System diese strukturell weniger berücksichtigt, erklärt die Mainzer Politikwissenschaftlerin Lea Elsässer auf »nd«-Anfrage. Sie hat die Auswirkungen sozialer Ungleichheit auf Regierungsentscheidungen untersucht und herausgefunden, dass politische Entscheidungen mit größerer Wahrscheinlichkeit den Interessen höherer Einkommensgruppen entsprechen. Für einkommensarme Gruppen gelte dagegen sogar ein negativer Zusammenhang: »Die Interessen der unteren und mittleren Einkommensschichten werden kaum systematisch beachtet oder häufig sogar missachtet, wenn die Anliegen der Armen und Reichen auseinandergehen«, fasst sie ihre Forschungsergebnisse zusammen.

Auch vor diesem Hintergrund empfinden sich arme Menschen besonders häufig als politisch machtlos, sagt Klaus Dörre, Professor für Arbeitssoziologie an der Universität Jena, im Gespräch mit »nd«. »Bei Langzeitarbeitslosen oder anderen, die dauerhaft in Armut leben, kommt die Sphäre der Politik kaum noch vor.« Demokratische Institutionen hätten nichts mehr mit der Alltagserfahrung der Leute zu tun. Das führe bei vielen dazu, dass sie sich kaum noch politisch engagierten, oder daran glaubten, Einfluss nehmen zu können, stellt Dörre fest.

Wenig überraschend ist mit Blick auf diese Forschungsergebnisse, dass unter den Reichen vergleichsweise wenige ein Problem mit dem aktuellen politischen System haben, wie die aktuelle WSI-Studie zeigt. Zwar gebe es laut Dörre auch unter Managern einige, die mit der Demokratie unzufrieden sind. »Die bewundern eher die Durchsetzungsfähigkeit der chinesischen Regierung als die Demokratie«, sagt er. Dennoch ist das Misstrauen unter Reichen aktuell vergleichsweise gering. Weniger als 20 Prozent derjenigen, die über 4000 Euro monatlich verfügten, hegen Misstrauen gegenüber dem Bundestag. Und nur etwas mehr als ein Drittel unter ihnen gibt ein geringes Vertrauen in Parteien und Politiker*innen an. »Reichere und gebildete Schichten haben eine bessere Lobby«, erklärt Studienautorin Dorothee Spannagel die Ergebnisse.

Die große soziale Ungleichheit und die Krisendynamiken der letzten Jahre hätten das Misstrauen armer Menschen gegenüber den demokratischen Institutionen weiter verstärkt. Denn sie sind schlechter in der Lage, die Krisenfolgen abzufedern, erläutert Spannagel. Sie hätten in der Regel weniger Netzwerke und finanzielle Ressourcen, um auf soziale und ökonomische Notsituationen zu reagieren. Darin sehen die Forscher*innen des WSI eine große Gefahr für die liberale Demokratie. Denn durch den Vertrauensverlust in die Institutionen würden sie anfälliger für rechtsextreme Einstellungen, warnt WSI-Direktorin Kohlrausch.

Das bestätigen auch die Ergebnisse der Autoritarismusforschung. Demnach gibt es unter Arbeitslosen deutlich höhere Zustimmungswerte mit Blick auf Chauvinismus und Ausländerfeindlichkeit, berichtet die Psychologin Kalkstein. Sie ist Mitherausgeberin der regelmäßig erscheinenden Leipziger Autoritarismusstudien. Aus der Untersuchung für das Jahr 2022 geht etwa hervor, dass in den Einkommensgruppen, die weniger als 1000 Euro und bis zu 2000 Euro verdienen, knapp ein Viertel der Befragten manifest ausländerfeindlich eingestellt ist. Dies bedeutet immer noch, dass drei Viertel es nicht sind, betont sie und warnt vor voreiligen Schlüssen.

Dennoch: In den Einkommensgruppen über 2000 Euro liegen die Werte bei elf Prozent, bei über 3000 Euro nur noch bei sechs Prozent. Der Unterschied hänge auch damit zusammen, dass Arme sich stärker durch Krisen bedroht fühlten. »Sie haben ohnehin schon das Gefühl, zu kurz zu kommen. Da verfängt das ausländerfeindliche Narrativ über Migranten, die einem etwas wegnehmen wollen, stärker«, führt sie aus.

Der Zusammenhang zwischen autoritären Einstellungen und Armut sei aber laut Kalkstein nicht kausal. Denn mit Krisen gingen Menschen unterschiedlich um. So würden viele der nicht autoritär eingestellten Armen eher politisch resignieren, als mit Ressentiments zu reagieren. »Insofern gefährdet Armut die Demokratie. Aber nicht nur auf der Ebene, dass sie autoritäre Einstellungen begünstigt, sondern auch und vor allem, weil sie die Teilhabe von Menschen erschwert, die nicht antidemokratisch eingestellt sind«, sagt die Autoritarismusforscherin im Gespräch mit »nd«.

Dies drückt sich auch im Wahlverhalten armer Menschen aus: Im Vergleich zu vor 50 Jahren ist die Wahlbeteiligung heute nicht nur niedriger, sondern auch ungleicher. Das hat der Professor für Politikwissenschaften, Armin Schäfer, in einer Studie zu den Bundestagswahlen herausgefunden. »Die Muster der Nichtwahl sind eindeutig: Je ärmer ein Wahlkreis oder ein Stadtteil ist, desto niedriger fällt die Wahlbeteiligung dort aus.« Dadurch ist die Beteiligungskluft zwischen ärmeren und reicheren Menschen in Deutschland eklatant, erläutert zudem Politikwissenschaftlerin Elsässer. Das gelte für Wahlen, aber stärker noch für anderen Formen der politischen Beteiligung wie Demonstrationen, Bürgerinitiativen und soziale Bewegungen.

Damit ist ein sehr grundsätzliches Dilemma beschrieben: Wer arm ist, hat weniger Vertrauen in die demokratischen Institutionen. Denn die sind es, die die Interessen von Armen strukturell benachteiligen und die Armut damit begünstigen. Das wiederum führt zu politischer Entfremdung und unter den demokratisch eingestellten Armen zu Resignation, was die Demokratie beschädigt.

Um aus diesem Dilemma herauszukommen, müssten die Perspektiven von Armen stärker berücksichtigt und die Bedingungen für ihre politische Teilhabe verbessert werden, ist Bettina Kohlrausch vom WSI überzeugt. Dazu müsse auch über die bestehenden Institutionen hinaus gedacht werden. Es braucht mehr Umverteilung von oben nach unten und Demokratie im Arbeitsumfeld, fordert sie. Das sieht auch Fiona Kalkstein vom Else-Frenkel-Brunswik Institut so und stellt fest: »Arme Menschen spüren, dass wir keine wirtschaftliche Demokratie haben.«

Darum plädiert auch Klaus Dörre für eine Ausweitung der Demokratie auf die Wirtschaft. Dies sei aber keine kurzfristige Lösung und brauche Zeit. Denn die demokratische Entscheidungsmacht sei auf schrittweise Lernprozesse angewiesen. »Aber die Erfahrung einer demokratischen Entscheidungsmacht in Unternehmen und Produktion wäre auf lange Sicht ein Schlüssel, um die Demokratie zu stärken«, unterstreicht er.

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