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Ukraine: Fünf Jahre für einen Like
Wer sich in der Ukraine russlandfreundlich äußert, muss eine Haftstrafe befürchten
Mit der Empfehlung der EU-Kommission, mit der Ukraine Beitrittsgespräche aufzunehmen, ist die Ukraine einem Beitritt zur Europäischen Union wieder einen Schritt nähergekommen. Ob es Fortschritte bei der Aufnahmebereitschaft der Ukraine gibt, wird sich vor allem in sieben von der EU festgelegten Bereichen zeigen. Bisher, so die EU, gebe es nur in zwei Bereichen messbare Fortschritte, der Medienfreiheit und der Justizreform.
Die Ukraine kann davon ausgehen, dass die Fortschrittsberichte der EU, von denen die Geschwindigkeit der Aufnahme abhängt, einen wohlwollenden Ansatz haben werden. Am Mittwoch etwa hatte die EU-Kommission bereits einen Fortschrittsbericht zur Medienfreiheit veröffentlicht. Und der ist sehr wohlwollend und schönfärbend. So seien im Berichtszeitraum mit der Verabschiedung des Mediengesetzes im Dezember 2022 und trotz der während des Krieges eingeführten Zugangsbeschränkungen für Medien und Journalisten gute Fortschritte erzielt worden. Die ukrainischen Bürger genießen Meinungsfreiheit, eine kritische Medienberichterstattung sei möglich, heißt es darin.
Tatsächlich gibt es in der Ukraine weitgehende Meinungsfreiheit, solange es um Themen wie Korruption, Religion, Wirtschaft und soziale Fragen geht. Doch beim Thema »Krieg« ist es vorbei mit der Meinungsfreiheit. Wer hier russische Narrative verbreitet, muss mit langen Haftstrafen rechnen. Und was ein russisches Narrativ im konkreten Einzelfall ist, entscheiden die Strafverfolgungsorgane.
Politiker wegen Russlandfreundlichkeit verhaftet
Seit September ist der Rada-Abgeordnete Nestor Schufrytsch von der inzwischen verbotenen Oppositionsplattform – Für das Leben in Untersuchungshaft. Ihm wird Staatsverrat vorgeworfen. Bei einer Verurteilung drohen ihm viele Jahre Haft. Er habe systematisch die Narrative des Kremls, dass der ukrainische Staat angeblich ein künstliches Gebilde sei, dass die Ukraine und Russland eine gemeinsame Geschichte hätten und dass Ukrainer und Russen angeblich »ein Volk« seien, verbreitet, erklärte der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU. Auf diese Weise soll Schufrytsch versucht haben, in der ukrainischen Gesellschaft prorussische Gefühle zu wecken.
Schufrytsch ist eines der prominentesten Gesichter in der Ukraine, die wegen Russlandnähe verfolgt werden. Treffen kann es aber jeden. Oftmals ist das Gefängnis nur einen Mausklick entfernt, wenn man abweichende Meinungen kundtut. 715 Menschen wurden in der Ukraine seit März 2022 zu teilweise bis zu fünf Jahren Haft verurteilt, weil sie mit einem Like in einem sozialen Netz oder einem unvorsichtigen Telefonat mit einem Freund oder der Ehepartnerin gezeigt haben, dass sie mit der russischen Seite sympathisieren. Grundlage dieser Verurteilungen ist Artikel 436-2, der eigens im März vergangenen Jahres verabschiedet wurde. Danach drohen allen, die die »bewaffnete Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine, die 2014 begann, rechtfertigen, als rechtmäßig anerkennen oder leugnen« oder russische Narrative verbreiten, Gefängnisstrafen. Auch den Krieg gegen die Ukraine als Bürgerkrieg zu bezeichnen ist strafbar, erklärt die Menschenrechtsgruppe Charkiw auf ihrer Webseite.
Zur Strafe Bücher lesen
Die Menschenrechtler aus der zweitgrößten ukrainischen Stadt berichten unter anderem vom Fall einer Frau, die zu fünf Jahren Haft verurteilt worden ist, weil sie in sozialen Medien von der Flucht ihrer Eltern nach Russland berichtet hatte. Wörtlich hatte sie geschrieben: »Die beste Nachricht von allen. Oma und Opa sind am Leben. Sie wurden von DNR- und LNR-Milizionären (Kämpfer der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, Anm. d. Red.) gerettet und nach Luhansk gebracht. Die Tochter und der Schwiegersohn sind aus Barnaul eingeflogen. Jetzt sind sie in Barnaul. Die Großeltern wurden zum 9. Mai auf den Roten Platz eingeladen.« Der vom Gericht beauftragte Sachverständige hatte in diesem Beitrag eine Leugnung der vorübergehenden Besetzung eines Teils des ukrainischen Hoheitsgebiets gesehen, da dieser Post »die sogenannten ›LNR‹ und ›DNR‹ als separate staatliche Einheiten beschreibt«.
Nicht nur Likes in sozialen Medien können eine Verurteilung nach sich ziehen. Auch Gespräche auf der Straße oder am Telefon können zu einer Verurteilung führen. Die vom Gesetz geforderte Haftstrafe von drei bis fünf Jahren wird dabei jedoch selten verhängt. Laut der Menschenrechtsgruppe Charkiw kamen von 715 Verurteilten 595 um eine Gefängnisstrafe herum und mussten zur Strafe etwa proukrainische Bücher über den Krieg lesen. Gleichwohl haben auch sie Stress, Erniedrigung durch öffentlich zur Schau getragene Reue, Angst und finanzielle Einbußen erlebt. Denn die Angeklagten müssen für die teils horrenden Summen für die linguistischen Gutachten bezahlen, mit denen die Strafverfolgungsbehörden ihnen ihre Russlandfreundlichkeit nachweisen wollen.
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