Zwangsehen in Berlin: Gestohlene Leben

Einrichtungen meldeten im letzten Jahr 496 Zwangsheiraten in Berlin

Protest gegen Zwangsehen am Tag gegen Gewalt gegen Frauen
Protest gegen Zwangsehen am Tag gegen Gewalt gegen Frauen

Für die meisten Schüler sind die Sommerferien der Höhepunkt des Jahres, in denen sie sechs Wochen lang ihren Interessen nachgehen können. Für manche ist die Auszeit von der Schule aber der Beginn einer lebenslangen Leidensgeschichte: Vor allem in den Sommermonaten steigt die Zahl der Zwangsverheiratungen an. Von Reisen ins Ausland kehren manche Schülerinnen dann gar nicht mehr ins Klassenzimmer zurück.

Insgesamt 496 Fälle von geplanten oder vollzogenen Zwangsehen wurden Einrichtungen in Berlin 2022 bekannt. Das geht aus einer Auswertung des Arbeitskreises gegen Zwangsverheiratungen hervor. An dem Arbeitskreis sind die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, Initiativen aus der Präventionsarbeit und Vertreter von Polizei und Verwaltung beteiligt. Für die Erhebung wurden 1380 Einrichtungen befragt, von denen sich 532 zurückmeldeten. Es ist bereits das fünfte Mal, dass der Arbeitskreis die Meldungen der Einrichtungen sammelt.

In 27 Prozent der erfassten Fälle wurde die Zwangsheirat bereits vollzogen, in 40 Prozent der Fälle war sie konkret geplant. In einem Drittel der Fälle wurde eine Zwangsheirat befürchtet, ohne dass Belege für konkrete Planungen vorlagen. Betroffen sind überwiegend Mädchen und junge Frauen: In 91 Prozent der Fälle ging es bei den Meldungen um weibliche Personen. Zwangsheirat wird dabei schon in frühen Jahren relevant. In neun Fällen waren die Betroffenen zwischen zehn und zwölf Jahren alt, in einem Fall wurde eine Zwangsheirat bei einem Mädchen in diesem Alter auch vollzogen. Der größte Teil der Betroffenen ist zwischen 16 und 25 Jahren alt.

Im Vergleich zur vorherigen Erhebung von 2017 sind die Fälle insgesamt um etwa 13 Prozent zurückgegangen. Wie in der Erhebung selbst angemerkt wird, dürfte es aber ein Dunkelfeld geben, das unerfasst bleibt. Das ist auch die Erfahrung von Elisabeth Gernhardt, die bei der Frauenrechtsorganisation Terre de Femmes das Thema bearbeitet. »Wenn wir Aufklärungsprojekte in Schulen machen, gibt es in fast jeder Klasse Leute, die das Phänomen kennen«, sagt sie. Die Schülerinnen berichteten dann von Cousinen oder Freundinnen, deren Ehen in sehr jungem Alter durch die Eltern arrangiert wurden.

Viele Betroffene meldeten sich nicht bei Beratungsstellen, weil sie befürchten, dann den Kontakt zu ihren Familien abbrechen zu müssen, oder dass die Polizei eingeschaltet wird. »Für die Betroffenen ist das ein schwieriges Ambivalenzverhältnis«, sagt Gernhardt. »Auf der einen Seite geht Gewalt von der Familie aus, auf der anderen Seite ist die Familie auch das engste soziale Umfeld.« Selbst Betroffene, die schon in Schutzeinrichtungen geflüchtet sind, kehrten deshalb manchmal zu ihren Familien zurück.

Bei vielen Betroffenen fehle zudem das Wissen über die Hilfsstrukturen. Dazu kommt ein Stigma: »Zwangsheirat ist ein Tabu«, sagt Gernhardt. Betroffene empfänden Scham und wollten sich nicht offenbaren. Für die Behörden sind die Zwangsehen häufig schwer zu ermitteln: Sowohl im Ausland als auch in Deutschland abgeschlossene Ehen werden oft nicht standesamtlich, sondern nur religiös oder traditionell vollzogen. »Das liegt dann weitgehend unter dem Radar«, sagt Gernhardt.

Häufig wüssten die Betroffenen auch vorher gar nicht, dass sie verheiratet werden sollen. »Sie werden unter einem Vorwand ins Ausland gelockt«, sagt Gernhardt. Ihnen werde dann erzählt, dass man sich für Familienfeste oder für den Besuch bei kranken Familienmitgliedern länger im Ausland aufhalten müsse. Erst bei Ankunft werde den Betroffenen dann klar, dass sie verheiratet werden sollen. Doch dann haben ihnen Verwandte oft schon Pässe und Handys entzogen. Viele kehrten daraufhin nie wieder nach Deutschland zurück, die Familie melde sie dann als verzogen.

Das Phänomen Zwangsheirat kommt vor allem unter Menschen mit Migrationshintergrund vor. Die Türkei und arabische Länder sind bei etwa der Hälfte der Fälle die Herkunftsländer der Betroffenen, wie die Erhebung zeigt. »Man kann das aber nicht einer speziellen Gruppe zuschreiben«, betont Gernhardt. Vielmehr gehe es um streng patriarchale Familienstrukturen, die es in verschiedenen Kreisen gebe. Auch die Religion reiche nicht, um das Phänomen zu erklären. »Zwangsverheiratungen sind eine Menschenrechtsverletzung, die weltweit zu finden sind«, sagt Gernhardt. Sie wurzelten in tief verankerter Geschlechterungleichheit.

Gernhardt wünscht sich, dass mehr Aufklärung an Schulen stattfindet. »Für viele Mädchen ist der Schulbesuch die einzige Zeit am Tag, in der sie von der Familie unbeobachtet sind«, sagt sie. Schulsozialarbeiter seien eine wichtige erste Anlaufstelle, die dringend auch personell aufgestockt werden müssten. Bislang machen die Meldungen aus Schulen laut der Erhebung nur einen kleinen Teil des Gesamtaufkommens aus. Gernhardt erklärt sich das damit, dass die Schulen häufig überlastet seien. Um so wichtiger sei es, Lehrkräfte schon in der Ausbildung für das Thema zu sensibilisieren.

Der schwarz-rote Senat will das Feld weiter untersuchen. Im Koalitionsvertrag ist festgehalten, dass es eine breit angelegte Studie zu dem Thema geben soll. Nicht alle halten das für den richtigen Weg. »Es gibt schon viel Wissen zu Zwangsehen in Berlin. Das Geld wäre besser in die Prävention investiert«, sagt Bahar Haghanipour, gleichstellungspolitische Sprecherin der Grünen im Abgeordnetenhaus, zu »nd«. »Die Initiativen wissen selbst, wo die Probleme liegen.« Viele Initiativen würden gerne mehr bei der Aufklärung und der Arbeit mit Betroffenen machen, scheiterten aber an fehlenden Mitteln. Im Haushaltsentwurf seien in dem Bereich zwar keine größeren Kürzungen vorgesehen, die bestehenden Mittel seien aber unzureichend. »Wir haben kein Wissensproblem, sondern ein Umsetzungsproblem«, sagt Haghanipour.

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