Von der Eisernen Lady zum Oggersheimer Riesen

Eine Konferenz in Berlin erinnerte an die neoliberale Wende vor 50 Jahren

  • Pia Sophie Roy
  • Lesedauer: 5 Min.

Den Begriff »Wende« können nicht DDR-Bürger respektive in persona Egon Krenz für sich beanspruchen. Er wurde bereits zuvor von Helmut Kohl strapaziert und propagiert. Darauf machten auf einer Konferenz des Vereins Helle Panke dieser Tage in Berlin sowohl Stefan Bollinger als auch Georg Fülberth aufmerksam. Gleichwohl der Oggersheimer Riese von einer »geistig-moralischen Wende« sprach, als er dank des Abfalls der FDP von der sozial-liberalen Koalition mit der SPD sowie einem Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt ins Kanzleramt einziehen konnte, bestätigt duch die Bundestagswahl 1983, handelte es sich damals vor allem um eine ökonomische Umorientierung. Kopiert werden sollte der in den USA und Großbritannien bereits vorgenommene neoliberale Kurswechsel – was auch geschah, jedoch nicht so rigide wie in den beiden angelsächsischen Staaten. Fülberth war es wichtig, darauf hinzuweisen, dass schon Ende der 70er Jahre im Sprachgebrauch aller politischen Kräfte in der Bundesrepublik, von rechts bis links, das Wort »Wende« gängig war, fixiert auch in Parteiprogrammen. Verstanden wurde darunter freilich jeweils etwas anderes.

Der Marburger Politikprofessor sprach bezüglich der Bundesrepublik von einem »verhaltenen Weg in den Neoliberalismus«. Bollinger sah einen Grund hierfür in der »Existenz der DDR mit ihrem alternativen System vor der Haustür«. Wobei, so der Berliner Historiker, der Realsozialismus bereits vor 50 Jahren Krisensymptome zeigte, den neuen Technologien erfolglos hinterherhechelte und sukzessive an Attraktivität verlor. Beide Referenten verwiesen auf das nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik sich im Osten auftuende »Experimentierfeld« für eine dann in ganz Deutschland sich vollziehende neoliberale Umstrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Was mit der Abwicklung und Privatisierung volkseigener Betriebe durch die Treuhand und Massenentlassungen zwischen Oder und Elbe begann, fand Fortsetzung bis hin zum Rhein. Die Langzeitwirkungen dieses Kurswechsels in der Bundesrepublik wie in der gesamten westlichen Welt sind unübersehbar.

Dem »Rammbock Thatcher« widmete sich Florian Weis. Die »Eiserne Lady«, wie die britische Premierministerin von 1979 bis 1990 genannt wurde, schien zunächst nicht dem Typ eines neoliberalen Scharfmachers zu entsprechen. Die Tochter eines kleinen Ladenbesitzers wurde lange von den konservativen, elitären Dünkel pflegenden Eliten in und um ihre Partei belächelt. »Die Parteigranden mochten sie nicht«, bemerkte Weis. Gerade sie sollte dann aber für eine rabiate Variante der Deregulierung, Zerschlagung des Sozialstaates und Entmachtung der Gewerkschaften stehen. Im Volksmund wurde sie auch »Milk Snatcher« genannt, als jemand also beschimpft, der den Kindern die Milch wegnimmt. Andererseits, so der Experte für britische Zeitgeschichte, gab es bei ihr einen »Mix von Elementen«, Lohneindämmung wie auch Verstaatlichungen. Ihren politischen Durchbruch habe Margaret Thatcher der »erfolgreichen Rückeroberung der Falklandinseln« nach der Besetzung durch Argentinien zu verdanken; 900 gefallene Soldaten auf beiden Seiten waren ein hoher Preis für ein kleines Eiland.

Wie unter der Präsidentschaft von Ronald Reagan die neoliberale Wende in den USA vonstatten ging, war nicht Thema eines spezifischen Referats. Sehr wohl aber erwähnten fast alle Redner den Pinochet-Putsch in Chile 1973, mit dem gestartet wurde, was der britische marxistische Historiker Eric Hobsbawm als einen Erdrutsch bezeichnete. Fülberth hob zudem die Aufhebung der Bindung des Dollars als Ankerwährung bis dahin an die Goldvorräte unter Richard Nixon hervor, also die Aushebelung des Bretton-Woods-Systems. Und natürlich fielen in den Beiträgen all die bekannten Namen, die für neoliberale Theorie und Praxis stehen, von John Maynard Keynes und Friedrich August von Hayek bis hin zu den Chicago Boys. Interessant Fülberths Einschätzung des Auseinanderbrechens der sozial-liberalen Koalition in der Bundesrepublik 1982. Seiner Absicht nach war sie im gegenseitigen Vorteil: Die FDP habe sich schon eine Weile »in einer Art babylonischer Gefangenschaft« gefühlt, die ihre Existenz bedrohte, die SPD wiederum musste um die Einheit der Partei bei einer Fortsetzung des Regierungsbündnisses fürchten.

Der Soziologe Frank Thomas Koch untersuchte die neoliberale Zurichtung der sogenannten Neuen Bundesländer keine zwei Jahrzehnte später, sprach von einem »doppelten Umbruch«, da es hier nicht nur um einen »Nachbau West« ging, sondern Ostdeutschland zugleich als Laboratorium genutzt wurde. 1989/90 habe es »keinen Masterplan für eine neoliberale Rosskur« im Osten gegeben. »Ostdeutsche Mitschuld läss sich nicht bestreiten«, so Koch, der zudem davor warnte, »Neoliberalismus als ein Schlagwort für alles zu gebrauchen, was einem nicht passt«. Überraschend war seine Präsentation statistischen Materials, das eine hohe Affinität der ostdeutschen Mittelschichten für Privatschulen belegt. Auch ein Zeugnis neoliberalen Triumphes

Holger Czitrich-Stahl, ehemaliger Juso und Friedensaktivist, der noch in den 80ern mit Gerhard Schröder Bier trank, markierte als Zeitpunkt der letztendlichen Kapitulation linker Gegenmacht zur neoliberalen Wende die Jahre 1989/90. Zuvor habe es noch machtvolle Streiks und Friedensdemonstrationen gegeben, merkte der Vorsitzender des Fördervereins Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung an, der nicht vergaß, auf das Schröder-Blair-Papier von 1999 zu verweisen, das eine »Modernisierung« der europäichen Sozialdemokratie avisierte, hingegen deren Unterwerfung unter Kapitalinteressen bedeutete. Das Abrücken von der Entspannungspolitik und neue Kriege wurden von Referenten und Diskutanten als Begleiterscheinung und Folge des von ihnen beleuchteten historischen Umbruchs gewertet. Wann und durch wen es zu einer Umkehr kommen könnte, wagte niemand zu prophezeien.

Einen Mitschnitt der Veranstaltung wird es auf der Homepage der Hellen Panke e.V. demnächst geben, zudem ist eine Veröffentlichung der Redebeiträge in deren Publikationsreihe geplant.

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