Documenta: Unfähigkeit oder Unwillen?

Keine Ende mit den Querelen um die Documenta. Eine Chronologie der Rücktritte

  • Tom Uhlig
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Selbstdemontage der Documenta geht in die zweite Staffel. Innerhalb weniger Tage trat die gesamte Findungskommission für die Documenta 16 (2027) von ihren Ämtern zurück, sodass die Zukunft der Kunstschau derzeit ungewiss ist. Aufgabe der Kommission war es, bis Ende des Jahres Kurator*innen vorzuschlagen. Ursächlich für den Fehlstart ist die weiterhin ungeklärte Haltung zu Antisemitismus im Kunst- und Kulturbetrieb. Die Chronologie der Rücktritte bildet die Konfliktfelder und das Kräfteverhältnis der Szene im Kleinen ab.

Zuerst legte die israelische Künstlerin und Psychoanalytikerin Bracha Lichtenberg Ettinger in einem Schreiben vom 10. November ihr Amt in der Kommission nieder. Nach dem Terror vom 7. Oktober bat Ettinger die Documenta-Geschäftsführung um eine Änderung des Zeitplans. »Ganz Israel stand neben sich, steht es immer noch. Mir ging es darum, innezuhalten, zu trauern«, sagte Ettinger im Gespräch mit der »FAZ«. Fünf Tage nach dem antisemitischen Pogrom hätten die nächsten Sitzungen stattfinden sollen. Die Documenta wollte dem Wunsch nach Verschiebung jedoch nicht nachkommen, was Ettinger zum Rücktritt zwang.

Zwei Tage später räumte der indische Schriftsteller und Kurator Ranjit Hoskote seinen Posten. Die Personalie war schon länger in der öffentlichen Diskussion. Nele Pollatschek hatte in der »Süddeutschen Zeitung« recherchiert, dass Hoskote 2019 einen Brief von BDS India (Boycott, Divestment and Sanctions) unterzeichnet hatte. Darin finden sich genretypisch antisemitische Verzerrungen Israels wie diese: »Zionism is a racist ideology calling for a settler-colonial, apartheid state« (Zionismus ist eine rassistische Ideologie, Siedler-Kolonialismus, Apartheid).

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Im Gespräch mit der Documenta-Führung habe Hoskote sich von BDS distanziert. Auf die Forderung einer »unmissverständlichen Distanzierung von seiner Unterschrift bzw. den antisemitischen Inhalten des Statements« folgte dann jedoch sein Rücktritt. In einem Brief vom 12. November an den Documenta-Geschäftsführer Andreas Hoffmann schreibt Hoskote pathetisch, sein Gewissen erlaube es ihm nicht, sich dieser Antisemitismusdefinition anzuschließen, gibt ihr dann aber sogleich Nahrung. Zwar verurteilt er den Hamas-Terror im Brief, halluziniert aber sogleich ein »Vernichtungsprogramm, das die israelische Regierung als Vergeltung gegen die palästinensische Zivilbevölkerung eingeleitet« habe.

Schließlich folgte am 16. November der Rest der Kommission. Simon Njami, Gong Yan, Kathrin Rhomberg und María Inés Rodríguez veröffentlichten gemeinsam einen Letter of Resignation (Rücktrittserklärung), in dem sie ihren Entschluss bekannt gaben. Der Brief lässt tief blicken.

Als Begründung wird nicht etwa der ignorante Umgang der Documenta-Geschäftsführung mit dem berechtigten Anliegen Ettingers nach einer kurzen Atempause angeführt, sondern die Antisemitismusdiskussion in Deutschland. Die öffentliche Diskreditierung Hoskotes habe die Findungskommission an den kommenden Ausgaben der Documenta zweifeln lassen. Zwar begrüße man die Sensibilität gegenüber antisemitischen Tendenzen, jedoch laufe sie Gefahr, für »Meinungspolitik« oder zur »Unterdrückung ungewollter Ansätze« missbraucht zu werden. Die Findungskommission schließt: »In the current circumstances we do not believe that there is a space in Germany for an open exchange of ideas and the development of complex and nuanced artistic approaches that documenta artists and curators deserve.« (Angesichts der gegenwärtigen Umstände glauben wir nicht an einen offenen Austausch von Ideen und nuancierten künstlerischen Zugängen, die Documenta-Künstler und -Kuratoren verdienen.)

Es ist der Findungskommission keine Zeile wert, dass ihre Kollegin, mit der sie sieben Monate zusammengearbeitet hatten, die Gruppe verlassen musste, weil man nicht bereit war, ein paar Sitzungen zu verschieben. Die Kälte der Geschäftsführung im Umgang mit Ettinger setzt sich in dieser mangelnden Solidarität fort. Im Mittelpunkt des Rücktrittschreibens steht allein die Unfähigkeit oder der Unwillen, Kritik an Antisemitismus auszuhalten. Es wird der angebliche Mangel an Möglichkeiten, Ideen offen auszutauschen, beklagt, während man auf Vorwürfe mit beinahe geschlossenem Rücktritt reagiert.

Die Eskalation ist weniger ein Indiz für angebliche deutsche Überempfindlichkeiten gegenüber Antisemitismus, sondern für die des Kulturbetriebs gegenüber Kritik. Es bleibt auch unklar, um welche Ideen es eigentlich gehen soll. Hoskote wurde nicht für seine Ideen kritisiert, sondern für die Unterschrift auf einem antisemitischen Dokument. Wenn unter »offenem Austausch« die Verbreitung antisemitischer Lügen gemeint ist, muss dessen Einschränkung nicht bedauert werden.

Kunst wird in dem Brief zu einer zarten Pflanze gemacht, die nur in geeigneten klimatischen Bedingungen gedeihen kann. Der aktivistische Habitus liegt mit der Dünnhäutigkeit im Widerspruch. Einerseits soll Kunst transformativ sein, also Gesellschaft grundlegend verändern. Andererseits sollen die Grundlagen dafür anscheinend bereits hergestellt sein, damit Kunst auf möglichst geringe Widerstände trifft. Man möchte mit Kunst politisch und gesellschaftlich Wirkung entfalten, aber ohne dass Politik und Gesellschaft mitreden. Die Findungskommission hat nicht die Haltungslosigkeit der Documenta-Geschäftsführung im Umgang mit Ettinger zum Problem gemacht, sondern ausgerechnet den Moment, an dem sie endlich Haltung gegen Antisemitismus gezeigt hat.

Diese Haltung sollte aber unbedingt bekräftigt werden. Die Documenta 15 ist nicht durch Antisemitismuskritik zum Fiasko geworden, sondern wegen Antisemitismus. Seit dem 7. Oktober gibt es allerorts antisemitische Kundgebungen, antisemitische Graffiti werden an Gedenkstätten gesprayt und Häuser mit Davidsternen markiert. Es ist zu wenig, von einer Kunstschau zu erwarten, diese Enthemmung nicht noch weiter anzufeuern. Sie könnte sich deutlich dagegen positionieren und zur Aufklärung beitragen. Die Posse um die Findungskommission lässt indes nicht gerade hoffen, dass die Documenta dieser Aufgabe so bald gerecht wird.

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