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I couldn’t help but wonder
In Anekdoten leben, Notizen verlegen, Menschen zersägen
Was verliert man, wenn man die Dinge, die man erlebt, in Narrative verwandelt? Menschen freuen oder ärgern sich, wenn sie als Protagonist*innen in den Geschichten vorkommen, die man erzählt. Und selbst, wenn sie sich manchmal anders repräsentiert fühlen, als sie sich das wünschen würden, fühlen sie sich meistens insgeheim geschmeichelt, »to be a protagonist in a movie called life«. Aber, was passiert mit einem selbst, wenn man die Erlebnisse hauptsächlich als eine Quelle des Erzählens und Wieder-Erzählens begreift? Und wie kann man sich herausfordern, ein bisschen Unmittelbarkeit einzufordern, trotz der ständigen Geschichten-Suche?
Wenn ich Menschen treffe, die ich noch nicht kenne, spüre ich manchmal, dass sie mir mit einer gewissen Erwartung begegnen, einem Vorwissen. Vielleicht haben sie etwas von mir gelesen oder mich vorlesen gehört, vielleicht haben sie auch eine Geschichte, die ich (wie ein alter Mann in der Stammkneipe) immer und immer wieder wiederhole, von einer dritten Person gehört, wie einen »urbanen Mythos«: Die Stadt spinnt ihre Fabeln von selbst und ich bin nur das Sprachrohr der Geschichten, die von allein entstehen, »tales of a city«. Nicht zufällig ist mein (mehr oder weniger heimlicher) Traumberuf ja eigentlich Kiezgröße.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.
Trotzdem: Was bleibt übrig, wenn das ganze Leben eine Geschichte wird, die man anderen oder sich selbst erzählt? Schreiben ist auch eine Form der Besessenheit, eine Ersatzsucht – und wie die meisten Süchte der ultimative Trost, zumindest im Moment selbst. Aber was sind die Nebenwirkungen? Ich denke immer wieder an den Mann, der es sich zur Regel machte, alles aufzuschreiben, was ihm begegnete. Er lebte nicht mehr lang, zumindest bekam er nicht mehr viel davon mit. Das Tippen hatte das (Er-)Leben ersetzt.
Ein neuer Freund sagte neulich zu mir: »Eine 16-stündige Autofahrt mit dir nach Italien. Toll, dann höre ich endlich den vollen Text.« Kurz nachdem wir den Schweizer San Bernardino-Tunnel durchquert haben, halten wir um 6 Uhr morgens an der Autobahnraststätte »Autogrill«, die wie eine Brücke einmal quer über die Fahrbahn führt, und essen Pizza, die wir in Olivenöl tauchen: Sie schmeckt himmlisch. Dann bestellen wir einen Cappuccino für 1,50 Euro. Unter uns rasen die Autos vorbei, auf der rechten Spur weiter nach Genua; auf der linken Spur zurück in die Schweiz, Richtung San Bernardino-Tunnel. Den »vollen Text« haben wir beide zum Glück noch immer nicht gehört: Vollständigkeit ist ja sowieso eine Illusion. Der volle Text – der allerletzte Punkt – »full stop« – »la petite mort«.
Immer vergesse ich mindestens eine Notiz, die mir, gerade in ihrer Abwesenheit, bahnbrechend vorkommt. Ich kriege schlechte Laune, zerbreche mir den Kopf und notiere mir, wenn der Gedanke tatsächlich nicht wiederkommt (mir nicht, wie ich hoffe, »wie Schuppen von den Augen fällt«) eine Platzhalterphrase in meiner iPhone-Notizfunktion: »Vergessene Notiz«.
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Unvergessen die Orte, an denen man die »wirklich wichtige Notiz« wie nach einer Sekundenwachheit wieder vergessen hat: Die Sonnenallee, die auf dem Fahrrad sitzend, an mir vorbeizieht, ungefähr auf der Höhe von »City Chicken« (ich bevorzuge »RISA«). Oder der steinige Weg hoch in das italienische Dörfchen »Bellissimi«, die Zikaden zirpen penetrant. Der Regionalexpress nach Prerow, ich höre »Mister Postman« von den Carpenters. Ein Gedankenblitz, der einen aufschrecken lässt wie aus einem langen Schlaf, und schon ist er wieder verschwunden – nicht aber die Erinnerung daran, dass da etwas war, das man ärgerlicherweise vergessen hat.
Wahrscheinlich ist es so wie in der Anekdote über einen berühmten Filmregisseur, der mitten in der Nacht aufwacht und einen genialischen Einfall hat. Im Dunkeln notiert er auf einen Zettel, den er extra auf seinem Nachtisch platziert hat, seine geniale Idee und schläft dann selig wieder ein. Am nächsten Morgen schaut er neugierig auf den Zettel und findet drei mit krakeliger Schrift notierte Worte: »boy meets girl«. Dasselbe ist mir auch neulich passiert, in meinem Fall stand, die Diktierfunktion war auf Deutsch eingestellt und hatte mich nicht verstanden: »Turtel« – gemeint war: »Turtle«.
Ich denke an den Zaubertrick der »zersägten Jungfrau«. 1921 wird zum ersten Mal die »Großillusion« der in einer Kiste steckenden, mit einer Kettensäge durchtrennten Frau öffentlich erzeugt. Die Methode wurde im selben Jahr unter dem Slogan »The Great Divide« bekannt. Es wurde ein Patent angemeldet auf die Technik des »Zerteilens einer jederzeit zur Gänze sichtbaren Person«. Besonders spektakulär ist der Trick, wenn die Zuschauer*innen mitsägen dürfen. Einige blutige Unfälle sind historisch verzeichnet. Manchmal fühle ich mich, als ob ich mich öffentlich selbst zerschneide, zur Unterhaltung anderer. Mal blutig, mal nicht. Es ist ein selbst auferlegter (fauler) Zauber. Mein Freund J. sagt: »Du musst in deinen Texten nicht immer alles von dir zeigen. Zeig doch mal nur deine Zehenspitzen.«
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