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Königsgrab von Seddin: Denkmal aus der Bronzezeit
Bei Seddin wurden bereits in der Bronzezeit Monumentalbauten zu Ehren eines Herrschers errichtet
Es war einmal – da herrschte in der Prignitz der mächtige König Hinz. Als er starb, erbaute man ihm ein einzigartiges Grab und bettete ihn in drei kostbare Särge: einen kupfernen, einen silbernen und im Innersten einen Sarg aus purem Gold. Seine Gemahlin und eine treue Dienerin folgten ihm in den Tod. Das Grab wurde mit einem gewaltigen Hügel überdeckt. Seit Langem wird diese Sage in der Prignitz erzählt. Das verwundert nicht. Denn rund um Seddin, unweit von Perleberg, waren im 19. Jahrhundert über 100 Hügel wahrnehmbar. Seit 1850 trieben die Einheimischen auf der Suche nach Schätzen oder auch nur nach Steinblöcken für den Straßenbau Schächte in die Hügel.
So auch am 15. September 1899, als zwei Arbeiter in einem Hügel auf eine Grabkammer stießen, sie öffneten und kostbare Gegenstände vorfanden. Im Mittelpunkt stand ein knapp 50 Zentimeter hohes, mit einem Deckel verschlossenes Tongefäß. Darin stand eine doppelkonische Bronzeblech-Amphore, die mit dem Leichenbrand eines 30 bis 40 Jahre alten Mannes und mehreren Bronzegegenständen (Tüllenbeil, Messer, Tasse) gefüllt war. Davor steckte ein Bronzeschwert mit der Spitze nach oben im Lehmfußboden. Zwei Tonurnen mit den verbrannten Knochen zweier junger Frauen zwischen 20 und 30 Jahren standen daneben. Drei leere Tontöpfe, mehrere Bronzeobjekte (Trinkschalen, Rasiermesser, Pinzette), zwei Eisennadeln und Halsschmuck aus Bronzedraht und Glasperlen – insgesamt über 40 Gegenstände hatte man den drei Toten mitgegeben. Der Hügel mit den kostbaren Beigaben aus der späten Bronzezeit wurde als »Königsgrab von Seddin« berühmt. Die Funde kamen ins Märkische Provinzialmuseum Berlin. Ein Teil der Objekte ging am Ende des Zweiten Weltkrieges verloren. Auf Umwegen gelangten die verbliebenen Objekte in das Museum für Vor- und Frühgeschichte in Berlin-Charlottenburg und 1999 kehrten sie wieder in das Märkische Museum Berlin zurück.
Als Universalgelehrter der nd.Redaktion weiß der Wissenschaftsjournalist Dr. Steffen Schmidt auf fast jede Frage eine Antwort – und wenn doch nicht, beantwortet er eben eine andere. Alle Folgen zum Nachhören auf: dasnd.de/schmidt
Überreste einer repräsentativen Halle
Seit 2000 erforscht das Brandenburgische Landesamt für Denkmalpflege (BLDAM) die Grabanlage und ihre Umgebung. Und seit Anfang 2023 fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) das gemeinsame Projekt des BLDAM und des Seminars für Ur- und Frühgeschichte der Georg-August-Universität Göttingen »Siedlungsumfeld Seddin SiSe«. Die diesjährige Grabungskampagne endete mit einer riesigen Überraschung: 250 Meter nördlich des Grabhügels konnte der Grundriss eines zehn Meter breiten und 31 Meter langen Gebäudes vollständig freigelegt werden. In den umlaufenden Wandgräben lagen Steine als Sockel, auf dem die Wände aus Holzbohlen und Flechtwerk mit Lehmverputz gestellt waren. In der Westhälfte wurde eine Feuerstelle festgestellt. Ein an der Nordwand gefundenes kleines Tongefäß könnte dort als Bauopfer niedergelegt worden sein. C14-Analysen und Keramikreste datieren Bau und Nutzung des Gebäudes in das 10. bis 9. Jahrhundert v. Chr. Damit sind sie geringfügig älter als das Königsgrab selbst und fallen eventuell auch in die Lebenszeit des später dort Bestatteten. Das mehrgeschossige Gebäude ist der größte hallenförmige Bau der Nordischen Bronzezeit. Es könnte als Versammlungshalle gedient haben, als repräsentativer Mittelpunkt einer mit dem Königsgrab verbundenen Großsiedlung.
Doch zurück zum Ausgangspunkt der archäologischen Untersuchungen bei Seddin, dem Königsgrab selbst. Die Grabkammer, gebildet von neun aufrecht stehenden Steinblöcken, wird oben mit übereinandergeschichteten Platten in Form eines falschen Gewölbes abgeschlossen. Die Innenseiten waren mit Lehm verputzt, auf dem rote mäanderartige Motive aufgemalt waren. Materialanalysen haben gezeigt, dass die rote Farbe Hämatit (Rötel) ist, ein Pigment, das im Grabkult früherer Kulturen mit Blut und Leben verbunden wurde. Die ausgemalte Grabkammer wird, vergleichbar mit bronzezeitlichen Hausbauten, als Wohnsitz des Toten angesehen. In Größe und Bauweise ist die Grabkammer einzigartig in Norddeutschland.
Mehrschichtiger Grabhügel
Direkt über der einstigen Oberfläche fanden die Ausgräber eine dünne Sandschicht mit feinen Holzkohlestückchen. Diese Schicht mag bei der Weihung des Platzes oder bei der Verbrennung der Toten entstanden sein. Mit Hilfe der C14-Radiokarbonmethode wurde die Holzkohle in das ausgehende 9. Jahrhundert v. Chr., das Ende der späten Bronzezeit, datiert. Auf dieser Schicht steht die Grabkammer. Ein im Durchmesser 64 Meter messender Ring aus Findlingen wurde um die Kammer angelegt und der Hügel darüber aufgeschüttet. Der Hügel selbst ist wie eine »Schichttorte« aufgebaut, wie Georadarmessungen zeigten: Dreimal übereinander wurde eine Sandschicht mit einem Steinpflaster abgedeckt. Auch die Oberfläche des heute noch neun Meter hohen Hügels war einst mit Steinen bedeckt und erweckte den Eindruck eines monumentalen Steinbauwerkes. »Macht dauerhaft sichtbar zu machen und für die Ewigkeit zu bauen«, fasst Jens May, Archäologe am BLDAM, die Absichten der Erbauer zusammen.
Auch die reichhaltigen Beigaben sind außergewöhnlich für ein Grab aus dem spätbronzezeitlichen Nordischen Kulturkreis. Besonderes Interesse erweckte die mit plastischen Buckeln verzierte Amphore. Ein ähnliches Buckeldekor findet sich auch auf einem Bronzegefäß aus Herzberg (Ostprignitz). Zählt man die verschiedenen Buckelreihen zusammen, ergibt die Summe die 354 Tage eines Mondjahres, d.h. des zwölfmaligen Durchlaufs der Mondphasen, und die 366 Tage eines Sonnenjahres, der Zeit des Umlaufs der Erde um die Sonne. Dies führte zu der Vermutung, beide Gefäße könnten als Kalendarium gedient haben. Als beide Gefäße im Landesamt für Archäologie Dresden mit 3D-Scans vermessen wurden, erlebten die Forscher eine weitere Überraschung: Beide Gefäße weisen in den Abmessungen, Umrissformen und der Ausbildung des Buckeldekors deckungsgleiche Übereinstimmungen auf. Wahrscheinlich waren sie in derselben Werkstatt oder sogar durch denselben Bronzehandwerker gefertigt worden.
Die Grabfunde zeigen auch interessante geografische Verbindungen auf. Für die Amphore finden sich auffallende Parallelen in einem etruskischen Adelsgrab der Villanova-Kultur im mittelitalienischen Veji. Die Symbole auf dem Messer und dem Rasiermesser weisen dagegen in die Nordische Bronzezeit zu ähnlich reichen Grabausstattungen in Jütland, Schleswig-Holstein und auf Fünen.
Neben den Bronzeobjekten werden leicht zwei eher unscheinbare Funde übersehen: Zwei schlichte Nadeln aus Eisen. Dieses Metall war in seiner Gewinnung und Verarbeitung im europäischen Norden Ende des 9. Jahrhunderts v. Chr. noch unbekannt. Material und Fertigprodukte mussten aus dem Süden und Südosten Europas importiert werden. Die Eisennadeln aus dem Grab können daher als seltene und teure Prestigeobjekte angesehen werden, verweisen aber auch schon auf den nahenden Übergang in die Eisenzeit.
Suche nach der Siedlungsstruktur
Aber wo lebten und arbeiteten die Menschen, die diese gewaltige Anlage errichteten? Im Herbst 2004 wurde im Zusammenhang mit der Verlegung einer Ferngasleitung die Umgebung mit langen schmalen Baggergräben nach archäologischen Objekten abgesucht. Dabei stieß man auf zahlreiche Siedlungsspuren: Feuerstellen und Pfostenlöcher von Hausbauten. Mit der gefundenen Keramik konnten viele Befunde in die späte Bronzezeit datiert werden. Die begrenzten Untersuchungsflächen ließen noch keine Rekonstruktionen der Siedlungsstrukturen zu.
Seit 2015 untersucht das Forschungsprojekt »Siedlungsumfeld Seddin SiSe« die Ausdehnung und Gliederung der vermuteten Siedlung und deren Verbindung mit dem Grab. Geometrische Messungen dokumentierten zahlreiche Anomalien des Erdmagnetfeldes im Boden, Hinweise auf mögliche Siedlungsspuren. Mit Hilfe dieser Messbilder wurden an Stellen mit vielen Anomalien neue Grabungen angelegt, die wiederum viele neue Details ans Tageslicht brachten: Herdstellen und Pfostenreihen von Gebäuden, viele mit Steinen, Holzkohle und Keramikscherben verfüllte Kochgruben, Zaungräbchen zur Abgrenzung einzelner Gehöfte. Die Siedlungsreste konnten in das ausgehende 9. Jahrhundert v. Chr. annähernd auf die gleiche Zeit wie das Königsgrab datiert werden.
Ein weiterer archäologischer Fund gibt bislang keinen Aufschluss über seine Funktion: 150 in gerader Linie angelegte Gruben waren mit faust- bis kopfgroßen Steinen gefüllt. Die Steine wiesen Risse und Abplatzungen als Folge einer starken Hitzeeinwirkung auf. In den Gruben hatten aber keine Feuer gebrannt, das heißt, sie waren nicht zum Kochen angelegt worden. Die Rekonstruktion zeigt außerdem, dass man die Steine nicht in die Gruben geschüttet, sondern sorgsam eng ineinander geschichtet hatte. C14-Daten einiger kleiner Holzkohlestücke zeigen, dass mit der Errichtung der Steingrubenreihe schon vor dem Bau des Grabes begonnen wurde, ihre Fortsetzung und Nutzung aber zur Zeit der Graberrichtung noch andauerte. Das vollständige Ausgraben einiger Gruben zeigte, dass pro Grab durchschnittlich 225 Kilo Steinmaterial »verbaut« wurde, was rechnerisch rund 34 Tonnen Steine für die gesamte Grubenreihe bedeuten würde. Auch wenn die Funktion rätselhaft bleibt, ein Zusammenhang mit rituellen Handlungen bei der Vorbereitung des Bestattungsplatzes und der Anlage des Grabes ist denkbar.
Ein Denkmal schon in der Bronzezeit
Das Grab von Seddin war schon bei seiner Errichtung in den Jahren vor 800 v. Chr. ein »herausragendes« Denkmal. In der späten Bronzezeit nahm die Bedeutung des Fernhandels über die großen Flüsse – Elbe und Oder, Morava und Donau – deutlich zu. Bernstein aus dem Norden, Kupfer und Blei aus dem Süden und das Wissen um deren Verarbeitung wurden getauscht. Seddin lag an der Südgrenze der Nordischen Bronzezeit-Kultur und stellte eine Verbindung zu der südlicher gelegenen Urnenfelderkultur und der Lausitzer Kultur her. Und es profitierte von seiner günstigen Lage an der einst schiffbaren Stepenitz mit der direkten Verbindung zur Elbe. »König Hinz« ist natürlich kein belegbarer Titel oder Name. Aber der überdimensionierte Grabhügel, die beiden weiblichen Mitbestattungen und die wertvollen Beigaben bezeugen, dass der Tote eine herausgehobene soziale Stellung einnahm. Und einige Objekte weisen darauf hin, dass der Herrscher von Seddin politisch-militärische Macht und priesterlich-sakrale Aufgaben in seiner Person als »Sakralkönig« oder »Priesterfürst« vereinte.
Das Königsgrab zog 2019 aus dem Märkischen Museum in das Neue Museum auf der Museumsinsel um. Seit einigen Wochen wird der Nachbau der Grabkammer mit den Beigaben dort in einer aufwendigen Neugestaltung präsentiert. Archäologen werden bei der Erforschung des Grabes, der Siedlung mit ihren Häusern und Werkstätten und bei der Suche nach dem Herrschersitz auch zukünftig noch neue Erkenntnisse zutage fördern.
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